"Tatort Schule": Immer mehr Gewalt und Mobbing
Anfang des Jahres sorgt ein Mobbingvideo aus Heide für Entsetzen. Panorama 3-Recherchen zeigen, dass Mobbing und Gewalt längst Alltag an Schulen sind. Doch es fehlt an Präventionsmaßnahmen.
In Heide in Schleswig-Holstein wurde öffentlich, was vielerorts im Verborgenen passiert: Mobbing. Anfang 2023 wird ein 13-jähriges Mädchen von mehreren Jugendlichen gequält und dabei gefilmt. Das Video verbreitet sich schnell. Bundesweit wird danach über den Fall berichtet.
Mehr als ein halbes Jahr später erzählen Jugendliche in Heide gegenüber Panorama 3, solche Vorfälle seien angeblich "Alltag", es sei sogar "noch schlimmer geworden". Im Unterricht hätten sie kaum über das Video gesprochen. Ein Lehrer habe einen Zeitungsartikel dazu ausdrucken und verteilen lassen. Ein anderer sei der Ansicht gewesen, alles, was außerhalb der Schule passiere, müsse nicht thematisiert werden.
Leider war kein Schulleiter bereit, vor der Kamera mit Panorama 3 zu sprechen. Die Kinder sollten "zur Ruhe kommen". Heides Bürgermeister Oliver Schmidt-Gutzat hat uns dagegen gerne erzählt, wie viele Anstrengungen er danach unternommen habe. Er gründete einen Runden Tisch zusammen mit Polizei, Jugendamt, Schule und Fachleuten. Er stockte die Schulsozialarbeit auf. Und: Zusammen mit dem Kreis schrieb er Stellen für mehrere Streetworker aus.
Studie bestätigt Zunahme von Mobbingfällen
Wie groß das Problem Mobbing an Schulen mittlerweile ist, bestätigt eine Studie aus dem Jahr 2022. Mehr als ein Drittel der befragten Schüler sind schon einmal Opfer von Mobbing geworden. Bei Cybermobbing im Netz - also Angriffen und Beleidigungen in sozialen Netzwerken oder über Messenger-Dienste - sind die Zahlen zwischen 2017 und 2022 um vier Prozentpunkte gestiegen, von 12,7 auf 16,7 Prozent. Etwa ein Viertel der Befragten gab an, aufgrund des Cybermobbings sogar Suizid-Gedanken gehabt zu haben.
Gewaltvideo mit schlimmen Folgen
Wir treffen eine Mutter, die bereit ist, anonym mit uns über ihren Sohn zu sprechen. Luca (Name von der Redaktion geändert) hat sich Anfang dieses Jahres das Leben genommen. Er war kein Einzelgänger, hatte Freunde und Freundinnen, auch auf Social Media. Aber dort nahm er sich vieles sehr zu Herzen, wurde immer wieder gemobbt.
Im Herbst letzten Jahres wurde Luca von einem Mitschüler verprügelt, suchte danach Hilfe bei seiner Mutter, die sofort reagierte. Sie fuhr mit ihm zum Täter und wollte mit dessen Eltern sprechen. Als sie nur der Täter an der Tür empfing, drohte sie ihm mit einer Anzeige. Später erfuhr sie, dass Luca bei der Tat auch noch gefilmt wurde - er zeigte ihr das Video: Die Mutter sah, wie ihr Sohn dreieinhalb Minuten von einem sichtbar stärkeren Jungen immer wieder geschlagen wird.
Lucas Eltern waren fassungslos und er selbst am Boden zerstört. Die Eltern dachten weiter über eine Anzeige nach, wollten aber zunächst versuchen, mit allen Eltern der Täter aus dem Video zu sprechen. Sie hofften, dass die anderen Eltern die Lage ernst nehmen, mit ihren Kindern sprechen würden.
Nach langem Zögern aber erstattete die Mutter doch Anzeige, kontaktierte das Schulamt sowie die Schulen, auf die die Beteiligten gehen. Sie berichtete allen von dem Video. Doch niemand habe reagiert. "Hätte mir Luca das Video nicht gezeigt, hätte ich davon ja überhaupt nichts erfahren. Wir waren immer gut im Gespräch, er hat mir auch viel erzählt. Aber es gibt halt auch Sachen, die Teenies nicht erzählen." Es müsse viel mehr gegen Mobbing unternommen werden, klagt die Mutter heute.
Expertin: Gewaltbereitschaft steigt
Catarina Katzer leitet in Köln das Institut für Cyberpsychologie und Medienethik und forscht zu Mobbing und Gewaltprävention. In den letzten Jahren sei die Gewaltbereitschaft international unter Kindern und Jugendlichen deutlich gestiegen, sagt sie. Die Jugendlichen würden schneller zuschlagen und besonders im digitalen Raum sei die Hemmschwelle deutlich geringer als im normalen, physischen Umfeld. Es brauche vor allem verpflichtende Prävention, um diese Entwicklung zu stoppen.
Dies belegten auch Zahlen aus den Niederlanden, wo es seit 2016 eine Verpflichtung für Prävention gebe: "Allein bei den 14- bis 16-Jährigen sind bei uns 25 Prozent betroffen, in den Niederlanden 15 Prozent. Das heißt also, Prävention hilft", sagt Katzer. Sie fordert die Politik auf, endlich mehr gegen Mobbing zu unternehmen und Prävention und Lehrerfortbildungen an Schulen verpflichtend einzuführen.
Prävention ist Ländersache
Panorama 3 hat eine Umfrage an alle Bundesländer verschickt und ausgewertet. Demnach bieten zwar alle Bundesländer Präventionsmaßnahmen an, doch verpflichtend sind sie nur in vier Bundesländern.
Die Kultusministerkonferenz erklärte auf die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, Mobbing-Prävention verpflichtend für alle Bundesländer einzuführen, dass "Mobbing und Cybermobbing (…) ein hochkomplexes ernst zu nehmendes Problem" sei - eine verpflichtende Prävention sei aber nicht möglich, da für solche Fälle "nach der verfassungsrechtlichen Ordnung das jeweilige Land zuständig" sei. So bleibt wirksame Prävention auch in Zukunft abhängig vom Engagement und den finanziellen Mitteln der einzelnen Schulen.
Mit der Polizei gegen Mobbing
An der Gemeinschaftsschule am Lehmwohld in Itzehoe versucht man, Mobbing schon im Vorfeld zu verhindern. Mitten zwischen den Schülerinnen und Schülern steht Polizeihauptmeisterin Ann-Kathrin Peters. Seit anderthalb Jahren läuft sie in unregelmäßigen Abständen als sogenannte "Schulpatin" über den Schulhof. Sie ist Ansprechpartnerin für die Lehrkräfte, den Schulleiter und die Schülerinnen und Schüler.
In der Vergangenheit kamen öfter Jugendliche von anderen Schulen, erpressten und mobbten. Durch ihre unangemeldeten Besuche soll Ann-Kathrin Peters mithelfen, das zu verhindern. Seitdem die Schulpaten der Polizei vor Ort sind, ist es deutlich ruhiger geworden an den Schulen in Itzehoe.
Auch in Heide setzt man jetzt auf Schulpaten in Uniform. Das Mobbing-Video wurde inzwischen deutschlandweit geklickt. Es war Zufall, dass es gerade in Heide auftauchte. Die Erschütterung über die Aufnahmen ist immer noch groß. Doch es wurde nur sichtbar, was überall längst Alltag ist.