Großprojekt gescheitert? Elbvertiefung läuft nicht wie geplant

Stand: 17.10.2022 15:48 Uhr

Containerschiffe müssen auf dem Weg in den Hamburger Hafen immer wieder flache Stellen umfahren - und das trotz Elbvertiefung. Denn die Baggerschiffe schaffen es nicht, die Fahrrinne vom Schlick freizuhalten.

von Stefan Buchen

Von der etwa 800 Millionen Euro teuren Elbvertiefung ist neun Monate nach dem offiziellen Abschluss nicht mehr viel übrig. Wie Recherchen des NDR zeigen, steht eines der größten deutschen Verkehrsprojekte dieses Jahrhunderts vor dem Scheitern. Die "Fahrrinnenanpassung" sollte den Zugang der großen Containerfrachter zum Hamburger Hafen verbessern. Im April freute Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) sich noch in einer Rede vor dem noblen Überseeclub, dass nun Schiffe "mit 20.000 Containern" den Hafen erreichen könnten.

Auch bei einer rundum gelungenen Elbvertiefung wäre der Wahrheitsgehalt dieser Aussage schon fragwürdig gewesen, denn ein Schiff mit 20.000 Containern an Bord hätte wohl zu viel Tiefgang, es sei denn, die Container wären leer. Durch den Ausbau der Unterelbe sollte der zulässige Tiefgang um einen Meter auf 14,50 m bei Flut und auf 13,50 m tideunabhängig erhöht werden. Vollbeladene Superfrachter mit 20.000 oder 24.000 Containern haben meist Tiefgänge von 15 Metern und mehr.

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Angestrebte Tiefe der Fahrrinne lässt sich nicht halten

Aber nun zeigt sich, dass die angestrebte Tiefe der Fahrrinne gar nicht gehalten werden kann. Die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) hat die zulässigen Maximaltiefgänge auf der gesamten Unterelbe heruntergesetzt, je nach Schiffstyp um bis zu 80 Zentimeter. Diese Einschränkung gelte für eine Dauer von "bis zu zwei Jahren". Das kommt einer weitgehenden Rücknahme der Elbvertiefung gleich, auch wenn der Bund betont, die Fahrrinnenanpassung stehe "nicht in Frage."

Dem NDR liegt ein ganzer Stapel schifffahrtspolizeilicher Warnmeldungen vor, die sogenannte Mindertiefen entlang der 120 Kilometer langen Strecke von der Elbmündung zum Hamburger Hafen anzeigen. An einer Stelle, warnt die Schifffahrtsverwaltung, sei die Fahrrinne 3,50 m weniger tief als vorgesehen. Diese Stelle liegt nur 30 Meter neben der Radarlinie, also mitten in der Trasse, durch die die ganz dicken Pötte fahren. Schiffe mit mehr als 10,30 m Tiefgang hätten diese Stelle zu umfahren, heißt es in der schifffahrtspolizeilichen Warnmeldung.

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Die Großschiffe werden auf der Fahrt durch die Unterelbe von Lotsen begleitet. Diese beklagen, "mit 400-Meter-Schiffen" um die Mindertiefen herum "Slalom" fahren zu müssen. Das geht aus einem Schreiben hervor, das der Chef der Lotsenbrüderschaft Elbe, der Ältermann, an seine Mitarbeiter verschickt hat. "Auf der einen Seite wird dargestellt, dass die Fahrrinnenanpassung fertig ist. Auf der anderen Seite können die Tiefen nicht gehalten werden", heißt es in dem internen Papier, das der NDR einsehen konnte. Das Wasser- und Schifffahrtsamt Elbe-Nordsee habe in Gesprächen mit der Lotsenbrüderschaft berichtet, dass es in den Bereichen Peilen, Baggern und Gewässerkunde an Personal mangele, heißt es in dem Dokument weiter.

Untiefe nicht verzeichnet

Dafür, dass in der Unterelbe nicht ausreichend gepeilt wird, hat Panorama 3 weitere Belege. Mindertiefen werden auf sogenannten Peilplänen markiert, die von den Behörden an die Schiffskapitäne und Lotsen übermittelt werden. Am 21. August 2022 war der Peilplan für die Elbfahrrinne zwischen St. Margarethen und Krummendeich nicht aktuell. Um 15 Uhr nachmittags war dort der Chemikalientanker "Sten Arnold" unterwegs. Bei Tonne 63 lief das nicht besonders große Schiff, das nur einen Tiefgang von 8,50 m hatte, auf Grund. Laut Peilkarte hätte an der Stelle eine Navigationstiefe von 11,50 m vorherrschen müssen. Die Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung (BSU) prüft die Sache. "Eigentlich hätte man noch genug Wasser unterm Kiel haben sollen", sagt Ulf Kaspera, Leiter der BSU, im Interview mit Panorama 3. Das Fahrwasser sei dazu da, "wie der Name schon sagt, dass die Schiffe eine sichere Passage haben". Deswegen schaue man da jetzt genauer hin, so Kaspera. Der Chemikalientanker sei in einen Sandhügel unter Wasser gefahren. "Das hat uns überrascht und das Schiff selbst sicherlich auch", ergänzt der BSU-Chef. Die Untiefe sei "auf den Karten nicht verzeichnet" gewesen. Der norwegische Schiffseigentümer bestätigt auf Anfrage, die "Sten Arnold" sei am 21. August "auf eine nicht verzeichnete Sandbank in der sicheren Fahrrinne" gelaufen.

Zweieinhalb Stunden steckte das Schiff laut BSU fest. Mit auflaufender Flut konnte es sich dann befreien und "unter Schlepperassistenz" seine Fahrt fortsetzen. Ein Schaden sei am Tanker durch den Aufprall nicht entstanden, bekräftigt der Eigentümer.

Zu viel Schlick in der Fahrrinne

Bedeutsam ist der Unfall wegen der möglichen Ursachen. Keine der beiden infrage kommenden Möglichkeiten ist für die Schifffahrt auf der Unterelbe gut. Ein Hamburger Polizeisprecher teilte auf Anfrage von Panorama 3 zunächst mit, die Wasserschutzpolizei habe in dem Fall ermittelt und sei zu dem Ergebnis gekommen, der Unterwasserhügel sei das Resultat "natürlicher Verwirbelungen" gewesen. Deshalb habe man die Ermittlungen eingestellt. Trifft dies zu, heißt das, die Fahrrinne wird so schnell durch die natürlichen Strömungen mit Schlick verstopft, dass nicht mehr alle Mindertiefen rechtzeitig kartografisch erfasst werden können. Unstrittig ist, dass die Strömungen in der Unterelbe durch die Flussvertiefung stärker geworden sind, mehr Material aus der Nordsee Richtung Hamburger Hafen hineintreiben und von den steiler gewordenen Hängen in die Fahrrinne reißen. Aber es gibt nach Informationen von Panorama 3 auch eine andere mögliche Ursache: An der Unfallstelle könnte Baggergut abgeladen worden sein. Dies wäre ein Anhaltspunkt für mutmaßlich kriminelles Verhalten und ein weiterer Beleg dafür, dass die Behörden die Schlickbeseitigung nicht mehr im Griff haben. Auf Nachfrage teilte die Hamburger Polizei einen Tag später mit, dass sie doch noch ermittle in der Sache.

Wie dem auch sei: Klar ist, dass zu viel Schlick in der Fahrrinne liegen bleibt. Dabei wird die Baggermenge in diesem Jahr nach Behördenangaben circa 40 Millionen Kubikmeter erreichen. Das sind rund zehn Millionen Kubikmeter mehr Material, als für die Elbvertiefung 2019/2020 bewegt wurde. Das bedeutet: Für die Unterhaltung der Fahrrinne wird mehr gebaggert als für die Flussvertiefung selbst. Und trotzdem reicht es nicht. Als hätten die Elbvertiefer sich ihr eigenes Grab geschaufelt. Die WSV reagiert mit der Ankündigung, dass die Baggerkapazitäten erhöht werden sollen.

Nach NDR-Informationen wurden nicht nur die zulässigen Maximaltiefgänge beschränkt. Auch für die sogenannte Begegnungsbox bei Wedel gibt es Restriktionen. Das räumt WSV-Präsident Hans-Heinrich Witte in einem Interview für die Dokumentation "Kampf um Riesenpötte - Wohin steuert Hamburgs Hafen?" ein. Durch die Fahrrinnenanpassung sollte die zulässige Gesamtbreite zweier sich begegnender Großschiffe auf einem acht Kilometer langen Streckenabschnitt von 90 m auf 104 m erhöht werden. Laut Witte habe der Bund die Gesamtbreite auf 92 m heruntergesetzt, "aus Sicherheitsgründen". Es hätten sich sehr viele Sedimente in der Begegnungsbox abgelagert. Später teilen Hamburg und WSV mit, diese Einschränkung gelte nicht für Schiffe bis 12,80 m Tiefgang. Die Hamburger Wirtschaftsbehörde ergänzt, auf dem kleinen Teilstück der Begegnungsstrecke, das sich auf Hamburger Gebiet befinde, könnten Begegnungsverkehre ungehindert abgewickelt werden. Begegnungen von Schiffen mit mehr als 12,80 m seien dort bislang jedoch "nicht notwendig" gewesen. Hamburg und WSV betonen, man setze "alles daran", die Begegnungsbox freizuräumen und die Beschränkungen aufzuheben.

Schlickmengen nach Elbvertiefung höher als prognostiziert

Die Schlickmengen nach der Elbvertiefung sind höher als prognostiziert, der erhoffte wirtschaftliche Nutzen hat sich nicht eingestellt, denn der Hamburger Hafen verliert Marktanteile gegenüber der Konkurrenz. Zentrale Annahmen, die 2012 im Planfeststellungsbeschluss für die "Fahrrinnenanpassung" getroffen wurden, erweisen sich als falsch. Deshalb fordert der Grünen-Bundestagsabgeordnete Stefan Wenzel, der auch parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium ist, den Planungsprozess für die Elbvertiefung nun "schonungslos aufzuarbeiten".

Das ist keine Besserwisserei. Denn die heutigen Probleme mit dem Schlick sind von vielen Kritikern der Elbvertiefung vorausgesagt worden, unter anderem von den Umweltverbänden, die erfolglos gegen das Verkehrsprojekt klagten.
Umgesetzt wurde der Flussausbau von Hamburger Seite unter dem Ersten Bürgermeister Tschentscher. Maßgeblich vorangetrieben und gerichtlich durchgesetzt hat die Elbvertiefung jedoch sein Vorgänger, der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der Hamburg von 2011 bis 2018 als Erster Bürgermeister regierte. Das Projekt sei wichtig, damit Hamburg wettbewerbsfähig und Welthafenstadt bleibe. "Es ist gut, dass die Fahrrinnenanpassung nun kommt," sagte Scholz in einer Regierungserklärung am 15. Februar 2017.

Nun, da sich die Zeichen des Scheiterns häufen, hat die Zeit der Schuldzuweisungen begonnen. Bund und Hamburg werfen sich gegenseitig Versäumnisse vor. Hamburgs Wirtschaftssenator Michael Westhagemann (parteilos) sagte bei "45 Min", die Elbvertiefung sei "auch der Wunsch der Reeder" gewesen. Tschentscher möchte sich nicht äußern und verweist auf die Wirtschaftsbehörde. Dabei hat der Erste Bürgermeister die Hafenpolitik wiederholt zur Chefsache gemacht, zum Beispiel in der Rede vor dem Überseeclub, in der er von Schiffen mit 20.000 Containern sprach. Unklar ist, ob die politische Debatte über Verantwortung und Fehler auch seinen Vorgänger im Amt, den heutigen Bundeskanzler, erreichen wird.

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 18.10.2022 | 21:15 Uhr

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