Die unbewältigte Tiefe
Zwischen Hamburg und Cuxhaven droht ein verkehrspolitisches Großprojekt am Schlick zu scheitern.
Am 24. Januar gab der Hamburgische Senat die neuen Tiefgänge für große Schiffe in der Unterelbe und im Hafen frei und erklärte damit die 9. Elbvertiefung für abgeschlossen. Unabhängig von Ebbe und Flut könnten nun alle Schiffe mit einem Tiefgang von13,50 m den Hamburger Hafen anlaufen. Auf der Flutwelle seien nun Tiefgänge bis 14,50 m möglich. Zuvor waren die zulässigen Tiefgänge um einen Meter geringer.
Von großen Feierlichkeiten war der Abschluss der 9. Elbvertiefung, die im Verwaltungsjargon "Fahrrinnenanpassung" heißt, nicht begleitet. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte an dem Tag offenbar Wichtigeres zu tun. Dabei hatte er als Erster Bürgermeister Hamburgs das Großprojekt durchgesetzt und gegen Kritik verteidigt. Kein geringeres als das Schicksal Hamburgs selbst hänge am Erfolg der Flussvertiefung, erläuterte Scholz in einer Regierungserklärung vor der Bürgerschaft am 8.10.2014. "Wenn die Fahrrinnenanpassung nicht stattfinden kann, hat das Folgen für die Wirtschaft Mittel- und Osteuropas, Deutschlands und natürlich für die hier im Norden und ganz besonders für den Hamburger Hafen," sagte Scholz. Als das Bundesverwaltungsgericht im Februar 2017 dann den Ausbau von Deutschlands größter Wasserstraße gegen alle Klagen genehmigte, freute sich der Erste Bürgermeister in einer neuerlichen Regierungserklärung: "Die Fahrrinnenanpassung wird kommen." Und leitete aus dem gerichtlichen und politischen Erfolg eine weitreichende Empfehlung ab: "Erst nach vielen, vielen Jahren zahlen sich Mühe und Anstrengung aus. Deshalb appelliere ich an die Politikerinnen und Politiker in unserem Land, den Mut nicht zu verlieren und auch zukünftig so große Projekte zu wagen."
Gemessen an seinen großen Worten von damals könnte man es merkwürdig finden, dass der Abschluss der Elbvertiefung und stellenweise auch -verbreiterung vor zwei Monaten dem jetzigen Bundeskanzler keinen Besuch an seiner früheren Wirkungsstätte, ja nicht einmal eine Äußerung der Zufriedenheit, wert war.
Scholz scheint zu wissen, dass er mit der Elbvertiefung, und sei es mit ihrem erfolgreichen Abschluss, politisch nichts mehr gewinnen kann.
Solltiefen häufig unterschritten
Recherchen von Panorama 3 zeigen, wieviel Mühe Hamburg und die Bundesverwaltung Wasserstraßen und Schifffahrt (GDWS) haben, die neue Fahrrinnentiefe und -breite zu halten. Die neuen Solltiefen auf den 120 Kilometern Wasserstraße zwischen Elbmündung und Hafenbecken werden demnach so oft unterschritten, dass der Abschluss der Flussvertiefung als gewagte Behauptung erscheint. Die Fahrrinne läuft so schnell und in solch gigantischem Umfang mit Schlick voll, dass die Baggerschiffe mit dem Wegräumen kaum noch hinterherkommen. Darüber hinaus wissen Hamburg und der Bund offenbar nicht mehr, wohin mit dem Schlick.
Sogenannte "Mindertiefen" werden in der Unterelbe zum Problem. Auf Anfrage von Panorama 3 teilt die Schifffahrtsverwaltung des Bundes am 25.03.2022 mit, dass für ihren Zuständigkeitsbereich in der Elbe dieses Jahr bislang 91 "schifffahrtspolizeiliche Verfügungen" wegen Mindertiefen erlassen worden seien. Verglichen mit den drei Vorjahren zeichnet sich offenbar ein deutlicher Anstieg solcher Verfügungen für das Jahr 2022 ab. Denn in den vergangenen Jahren wurden im Durchschnitt rund 200 Verfügungen über das gesamte Jahr erlassen.
Mit solchen Warnmeldungen an die Schifffahrt schränken die Behörden das Navigieren für Schiffe ab einem bestimmten Tiefgang auf genau bezeichneten Streckenabschnitten ein. Werden die Sedimente, welche einen Streckenabschnitt verstopfen, beseitigt, heben die Schifffahrtsämter die Beschränkungen wieder auf.
Sedimente in der Fahrrinne
Panorama 3 liegen zwei "schifffahrtspolizeiliche Verfügungen" vor. In der "Maßnahme 84/22" vom 11.03.2022 verhängt das dem Bund unterstehende Schifffahrtsamt Elbe-Nordsee Beschränkungen auf einem fünf Kilometer langen Elbabschnitt bei Wedel wegen Mindertiefen von bis zu 1,30m. "Alle Fahrzeuge mit einem Tiefgang von 12,70 m und mehr" hätten die kritischen Bereiche zu umfahren oder mit "äußerster Vorsicht und stark reduzierter Geschwindigkeit zu passieren." Fahrzeuge mit dem "maximalen tideunabhängigen Tiefgang" (also 13,50 m, Anmerkung der Redaktion) und 0,30 m weniger "dürfen den Bereich zwischen den Tonnen 123 und 125 von 1,5 Stunden vor bis 1,5 Stunden nach örtlichem Niedrigwasser nicht befahren." (Hervorhebungen im Original)
Die schifffahrtspolizeiliche Verfügung 79/22 vom 10.03.2022 schränkt die Navigation auf zweieinhalb Kilometern bei Freiburg an der Elbe wegen Mindertiefen von bis zu 1,70 m ein. Alle Schiffe mit einem Tiefgang von 12,10 m und mehr hätten den Bereich entweder zu umfahren oder äußerst vorsichtig und langsam zu passieren. "Begegnungen von zwei Fahrzeugen mit einem Tiefgang von 12,10m und mehr sind im Bereich [...] nicht gestattet." (Hervorhebungen im Original)
Ziel der Elbvertiefung war das tideunabhängige Navigieren für Tiefgänge bis 13,50 m. Die Beispiele zeigen, dass dies offenbar häufig nicht gewährleistet ist, wegen "Eintreibungen" von Sedimenten in die Fahrrinne.
Die Hamburgische Wirtschaftsbehörde hat 2022, wie sie auf Anfrage mitteilte, bislang acht schifffahrtspolizeiliche Verfügungen für ihren Zuständigkeitsbereich erlassen. Der Trend geht auch im Hafen und den direkten Zufahrtsstrecken nach oben. Die Mindertiefen hätten auch hier bis zu 1,70 m betragen. Nur eine Verfügung sei wieder aufgehoben worden.
Gefahr der Bodenhavarie für große Schiffe?
Es gibt weitere Indizien, dass auch in Hamburg das Fahrwasser immer wieder vollläuft. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion teilt der Senat am 17.12.2021 mit, es seien "Mindertiefen von mehreren Dezimetern in der Unterelbe, dem Köhlbrand und der Süderelbe zu beobachten." In einem HPA-Gutachten vom Februar 2022 heißt es: "Als Ergebnis des unzureichenden Sedimentaustrages hat sich seit 2014 das Sedimentinventar im Hamburger Hafen deutlich erhöht […]. Die Folge sind Mindertiefen in von der Schifffahrt genutzten Bereichen."
Panorama 3 hat die Recherchen dem Kapitän a.D. Klaus Schroh aus Cuxhaven, einem Kritiker der Elbvertiefung, vorgelegt. Schroh sagt im Interview, die gehäuft auftretenden Untiefen erhöhten das Risiko, dass großen Schiffen in der Unterelbe "eine Bodenhavarie widerfährt".
Der Hamburgische Senat erklärt auf Anfrage, dass die schifffahrtspolizeilichen Maßnahmen ein gleiches Sicherheitsniveau für die Schifffahrt gewährleisten. Durch die Maßnahmen würde ein erhöhtes Havarierisiko auch für große Schiffe vermieden, ergänzt die Schifffahrtsverwaltung des Bundes und betont gegenüber Panorama 3, dass die Mindertiefen bislang kein Schiff an einem geplanten Einlaufen in oder an einem Auslaufen aus Hamburg gehindert hätten.
Verzögerungen in der Schifffahrt
Nach den Recherchen von Panorama 3 kommt es auf der Elbe aber zu Verzögerungen in der Schifffahrt. So soll ein Containerschiff kurz nach dem Ablegen im Hamburger Hafen am frühen Morgen des 14. März 2022 zur Unterbrechung seiner Fahrt bei Finkenwerder gezwungen gewesen sein.
Der Großfrachter habe zwei Stunden bis zum Eintreffen der Flut warten müssen, wie dem NDR ein sachkundiger Informant berichtete. Dabei sei das Schiff von zwei Schleppern auf Position gehalten worden. Erst um 9 Uhr habe das Schiff seine Fahrt Richtung Nordsee fortsetzen können.
Die zuständige Reederei wollte sich zu dem Vorfall nicht äußern. Doch allgemein werden Verzögerungen in den Monaten Februar und März aus Reedereikreisen bezeugt.
Die Hamburger Wirtschaftsbehörde bestätigt den Vorfall. Sie verweist auf die "vorherrschenden Randbedingungen" und bezeichnet den Ablauf als "normale und anlassbezogene Verkehrssteuerung".
Wohin mit dem Schlick?
"Hamburg steht der Schlick bis zum Hals", sagt Kapitän a.D. Klaus Schroh. Die Baggermengen in Hamburg und der Bundeswasserstraße haben sich 2021 auf 35 Millionen Kubikmeter erhöht. In den Jahren zuvor wurden durchschnittlich etwa 25 Millionen Kubikmeter aus Fahrrinne und Hafenbecken gebaggert. In einer Pressemitteilung vom 08.02.2022 gibt der Senat erstmals zu, dass die diversen Elbvertiefungen - wörtlich heißt es "menschliche Eingriffe in der Elbe" - das Schlickproblem vergrößern.
Wohin mit dem Schlick? Das wird eine immer bohrendere Frage. Seit Jahren kippt Hamburg aus dem Hafen beseitigte Sedimente zehn Kilometer flussabwärts bei Neßsand in die Elbe. Von dort kehrt der Schlick mit der Flut bald wieder in den Hafen zurück. Eine Vereinbarung mit Schleswig-Holstein erlaubt es Hamburg, einen Teil der Sedimente südlich von Helgoland in die Nordsee zu kippen. Aber auch diese Verklappstelle bei "Tonne E3" reicht nicht mehr. Deshalb hat der Senat im Februar seine Absicht kundgetan, Schlick in der Hamburgischen Außenelbe nördlich der Vogelschutzinsel Scharhörn, die zu Hamburg gehört, zu entsorgen. Weil die Stelle ans Niedersächsische Wattenmeer grenzt, liefen Politiker in Cuxhaven und Hannover gegen die Pläne Sturm. Hamburg zog die Pläne später vorläufig zurück. Aber klagen will Niedersachsen gegen die Verklappung bei Scharhörn trotzdem. "Wir haben eine Klageschrift. Die werden wir auch einreichen," sagt Umweltminister Olaf Lies (SPD) im Interview mit Panorama 3. Hamburg sehe nicht endgültig davon ab, "dass Scharhörn für sie in Frage kommt. Deshalb müssen wir an der Stelle unsere Rechtsposition wahren, um auf jeden Fall zu verhindern, dass es dort zu einer Verklappung kommt", so Lies.
In der Not kippt Hamburg nun einen Teil seines Schlicks einige Seemeilen weiter östlich in die Elbmündung. Seit dem 18. März fährt ein Baggerschiff zweimal täglich vom Köhlbrand zu der Schlickabladestelle am "Neuen Lüchtergrund", zehn Kilometer vor Cuxhaven, zwischen Fahrrinne und Schleswig-Holsteinischem Wattenmeer. Die Klappstelle in der Elbmündung wird vom Bund betrieben, der Hamburg nun gestattet, dort 1 Million Kubikmeter abzuladen. Unglücklich ist man deswegen in Schleswig-Holstein. Umweltminister Jan Philipp Albrecht (Grüne) vermutet, dass der Schlick aus dem Hafen mit Schadstoffen belastet ist und das UNESCO-Naturerbe gefährden könnte. Albrecht lässt rechtliche Schritte gegen Hamburg prüfen und spricht von einem "hohen Klagerisiko".
"Für uns ist klar, dass wir nicht gegen Recht und Gesetz oder gegen die Natur Dinge tun können. Und das sollte auch für Hamburg eigentlich die Leitlinie sein," sagt der Minister im Interview mit Panorama 3.
Die Schifffahrtsverwaltung des Bundes erklärt, dass die zulässige Schadstoffmenge am "Neuen Lüchtergrund" nicht überschritten werde.
Unterhaltung der Wassertiefen bleibt Daueraufgabe
Die Hamburger Wirtschaftsbehörde erklärt noch einmal schriftlich, dass die Unterhaltung der Wassertiefen eine Daueraufgabe bleibe, die unabhängig von der Fahrrinnenanpassung regelmäßig an veränderliche Randbedingungen angepasst werden müsse.
"Es ist gut, dass die Anpassung der Fahrrinne nun kommt," hatte Olaf Scholz am 15.02.2017 in seiner Regierungserklärung als Erster Bürgermeister verkündet. "Sie können sicher sein: Hamburg wird auch in Zukunft eine Welthafenstadt sein." Die 9. Elbvertiefung als Garant für den Status Welthafenstadt. Das war und ist die Erzählung der politisch Verantwortlichen. Der trotz Elbvertiefung wachsende Vorsprung der Konkurrenzhäfen in Rotterdam und Antwerpen weckt bereits Zweifel an dem Narrativ. Denn auch ohne Schlickprobleme können nur Schiffe bis zu einem Tiefgang von 14,50 m tideabhängig den Hamburger Hafen erreichen. Auf den Weltmeeren fahren aber schon Containerfrachter mit Tiefgängen von mehr als 17 Metern, die in den Westhäfen problemlos anlegen können. Und nun kommt der weggebaggerte Schlick immer schneller und in immer größeren Mengen wieder zurück. An der Unterelbe bahnt sich das tragische Scheitern einer Ambition an.