Gewalt gegen Politiker: Plakatieren mit mulmigem Gefühl
Im Wahlkampf hat es bereits mehrere schwere Angriffe gegen Politikerinnen und Politiker gegeben. Auch Kommunalpolitiker der Grünen und der CDU in Neubrandenburg werden verbal attackiert und bedroht. Sie plakatieren weiter, aber mit mulmigem Gefühl.
Marcel Spittel und sein Parteifreund Rainer Kirchhefer ziehen zum Plakatieren für die Grünen in Neubrandenburg los. Die Übergriffe gegen Vertreter und Plakate ihrer Partei haben so zugenommen, dass sie nur noch zu zweit unterwegs sind. Aus Sicherheitsgründen. In einer App haben sie die Standorte ihrer Plakate für die Kommunalwahl markiert. Sie können auch sehen, wo schon welche kaputt sind. "Die roten Punkte werden immer mehr", sagt Spittel. Sie versuchen, die beschädigten oder zerstörten Plakate auszutauschen - und hängen sie an Laternenmasten besonders hoch.
Die beiden Grünen wurden schon mehrfach angepöbelt und auch bedroht. Immer wieder, erzählen sie, werden ihnen auch Parolen aus vorbeifahrenden Autos entgegengebrüllt. Bis sie einmal sogar eingeschüchtert das Plakatieren abbrachen. "Das war dann schon etwas, wo ich mir jetzt denke, vielleicht steigen sie beim nächsten Mal auch aus und kommen noch näher oder so. Da habe ich dann schon so ein mulmiges Gefühl", sagt Spittel.
CDU-Kommunalpolitiker: Das eigene Plakat als Boxsack
Ein mulmiges Gefühl hat mittlerweile auch der CDU-Kommunalpolitiker Steven Giermann. "Ich habe den einen oder anderen Wahlkampf gemacht, aber die Situation ist eine völlig andere. Diese persönlichen Anfeindungen, dieses Kanalisieren von Gewalt auf die einzelne Person, das habe ich so noch nicht erlebt", erzählt Giermann. Beim Plakatieren gucke er sich immerzu um, schaue, ob jemand in der Nähe ist.
Giermann ist seit rund zwei Jahren Vorsitzender des Neubrandenburger CDU-Stadtverbands. Seitdem wird er online bedroht. Mit dem Wahlkampf schwappe das zunehmend auch in das echte Leben, sagt er. Mit Nazi-Parolen und Gewalt gegen sein Gesicht auf Wahlplakaten. Er habe beobachtet, wie sich zwei Jugendliche an seinem Plakat auf beide Seiten der Laterne stellten und das Plakat wie einen Boxsack nutzten und immer wieder darauf einschlugen, bis es irgendwann am Boden lag. "Man selber denkt dann darüber nach: Was passiert dann mit einem selbst, wenn man da stehen sollte?"
Heftige körperliche Angriffe gegen Politikerinnen und Politiker
Nicht nur Gewalt gegen Sachen gibt es im Kommunalwahlkampf in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern sowie bundesweit beim Europa-Wahlkampf, sondern auch gegen Personen. Teils sehr heftig sind Politikerinnen und Politiker angegriffen worden - beim Wahlkampf, bei dienstlichen Terminen oder in der Freizeit.
Eine Auswahl aus den vergangenen drei Wochen: Beim Aufhängen von Wahlplakaten zur Europawahl wird der sächsische SPD-Spitzenkandidat Matthias Ecke in Dresden von mehreren Personen zusammengeschlagen und muss mit Knochenbrüchen im Gesicht ins Krankenhaus. Bei einem Termin in einer Bücherei wird die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) von einem Mann mit einem harten Gegenstand in einem Beutel am Kopf getroffen und leicht verletzt. Beim Kneipenbesuch wird der AfD-Landtagsabgeordnete Martin Schmidt in Schwerin mit einem Aschenbecher attackiert und erleidet eine Platzwunde.
Straftaten gegen Politiker nehmen zu
Diese drei Angriffe auf Politikerinnen und Politiker sind konkrete Beispiele für eine Entwicklung, die die polizeiliche Statistik unterstreicht: Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger nehmen zu. Nach aktuellen Zahlen des Bundesinnenministeriums wurden im vergangenen Jahr bundesweit 5.388 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger gezählt: gut 29 Prozent mehr als im Vorjahr, als 4.173 Delikte in der Statistik auftauchten. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte bei der Vorstellung der Zahlen am Dienstag, vor allem am rechten Rand werde "ein Klima der Gewalt" geschürt. "Wir erleben eine Eskalation der politischen Aggression."
Höchststand bei politisch motivierten Straftaten
Faeser präsentierte mit dem Präsidenten des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, auch allgemeine Zahlen zur politisch motivierten Kriminalität. Das BKA registrierte 2023 insgesamt 60.028 Fälle politisch motivierter Kriminalität - das sind rund 1.100 mehr als im Vorjahr und somit der höchste Wert seit Einführung der Statistik 2001. Mit 28.945 Taten wurden dabei erneut am meisten rechtsextremistisch motivierte Taten gezählt. Ihre Zahl nahm um gut 23 Prozent im Vergleich zu 2022 zu. Auch die Zahl der linksextremistisch motivierten Taten stieg - um 11,5 Prozent auf 7.777 (2022: 6.976 Fälle). Das größte Plus wurde bei den religiös motivierten Straftaten registriert: Von 481 Fällen im Jahr 2022 stieg die Zahl auf 1.458 Straftaten 2023 - ein Zuwachs von 203 Prozent.
"Wir müssen unmissverständlich zeigen, dass der Rechtsstaat diese Gewalt nicht hinnimmt", sagte Faeser. Es gelte nun, "die Menschen in unserem Land zu schützen, die Rassismus, Judenhass, islamistische Gewalt, Rechtsextremismus und Linksextremismus durch Anfeindungen und Bedrohungen erleben müssen". Mit Blick auf Radikalisierungstendenzen in Teilen der Bevölkerung sagte BKA-Präsident Münch, es gelte die Entwicklung sehr ernst zu nehmen, da sie die Demokratie und den gesellschaftlichen Frieden bedrohe.
"Nicht mehr so frei und unbesorgt"
Die Bedrohungslage macht etwas mit den Wahlkämpfern - auch in Neubrandenburg. "Ich verändere mich auf jeden Fall", sagt CDU-Politiker Giermann. "Ich gehe auf Veranstaltungen nicht mehr so frei und unbesorgt, weil die Angst da ist."
Marcel Spittel von den Grünen glaubt, die Menschen seien sich oftmals gar nicht bewusst, was ihre Pöbeleien und Drohungen anrichteten. "Sie scheinen vergessen zu haben, dass das gegenüber auch irgendwie nur Menschen sind und dass wir letztlich ja auch die sind, die hier die Kommunalpolitik vor Ort machen."
Parteienforscherin: "Bestimmte Ideen werden hinausgedrängt"
Aber wie lange gibt es noch genügend Menschen, die dafür bereitstehen? Die Politikwissenschaftlerin Jasmin Riedl forscht zu Parteien und Wahlen in Deutschland. Die seit Jahren zunehmende Gewalt macht ihr Sorgen. Sie sieht darin eine gefährliche Entwicklung für die Demokratie. "Jede gewaltsame Äußerung, jedes Beschmieren von einem Plakat, jede Drohung, die per Post oder per Telefon kommt und jeder Angriff, der passiert, ist Gewalt", sagt Riedl. "Das eine ist symbolische Gewalt, das andere ist physische Gewalt. Und Gewalt hat in einer Demokratie im demokratischen Wettbewerb nichts zu suchen." Denn der Wettbewerb werde dadurch verschoben und verzerrt, weil bestimmte politische Ideen und Konzepte hinausgedrängt würden.
Münkler: Gewalt bedroht die Grundlage der Demokratie
"Gewalt gegen Politiker, zumal gegen ehrenamtliche Politiker und Wahlhelfer, ist ein Angriff auf das Fundament der Demokratie", sagt auch Politikwissenschaftler Herfried Münkler. "Die Weimarer Republik steht vor unserem Blick in die Zukunft wie ein Warnzeichen: Erinnert euch an die späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre, wie die Republik auch durch Schlägerbanden zugrunde gerichtet wurde."
Wenn so etwas nicht rechtzeitig und entschieden gestoppt werde, dann habe das zur Folge, dass wir in Weimarer Verhältnisse hineinlaufen. Denn wenn noch mehr Leute als bislang schon sagten, dass sie sich nicht politisch engagieren möchten, dann habe das zur Folge, dass irgendwann niemand mehr zur Verfügung steht "und der demokratische Input zum Erliegen kommt". Dadurch komme die Demokratie unter die Räder.
Was tun? Optimistisch bleiben - oder sich aus erster Reihe zurückziehen
In Neubrandenburg arbeitet der ehrenamtliche Grünen-Politiker Spittel daran, dass der demokratische Diskurs aufrechterhalten wird - etwa indem er mit seinem Parteikollegen die beschädigten Wahlplakate austauscht. Doch irgendwann sind ihre Mittel erschöpft - denn die Plakate zahlen sie wie fast alle Lokalpolitiker aus ihrer eigenen Tasche. Was treibt Spittel an? "Optimistisch bleiben. Aufeinander zugehen. Und die Ermittlungsbehörden, die sind hier auch gefragt, Straftaten aufzuklären", sagt er. "Aber verhindern präventiv können wir das nicht. Da sind wir als Gesellschaft alle zusammen gefragt."
CDU-Stadtverbandsvorsitzender Steven Giermann hat derweil schon jetzt persönliche Konsequenzen gezogen. Er wolle sich nach der Wahl aus der ersten Reihe der Kommunalpolitik zurückziehen. Den Wahlkampf wird er aber noch zu Ende führen. "Ich bin erleichtert, wenn es vorbei ist", sagt Giermann. "Ich wäre sehr froh, wenn wir da rauskommen und es allen gut geht. Und damit meine ich nicht nur körperlich gut, sondern auch seelisch."