Todeszone Gaza: Waffen aus Deutschland
Im Gazastreifen setzt die israelische Armee offenbar auch Waffen aus Deutschland ein. Nach dem Hamas-Massaker wurden deutlich mehr Waffenexporte nach Israel genehmigt.
"Wir können nicht zusehen, wie die Menschen in Gaza den Hungertod riskieren," sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei seinem jüngsten Besuch in Israel am 17. März 2024, als neben ihm der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu (Likud) stand. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagt in jüngster Zeit wiederholt, die Palästinenser in Gaza, von denen die meisten Flüchtlinge im eigenen schmalen Küstenstreifen sind, könnten sich "nicht in Luft auflösen". Scholz und Baerbock wirken hilflos und überfordert. Womöglich sind sie auch erschrocken. Wo hat der "Wertepartner Israel", wie Scholz das Land ein Jahr zuvor nannte, sie da bloß hineingeritten?
Bundeskanzler und Außenministerin sicherten der israelischen Regierung nach dem Massaker, das die nationalreligiöse Palästinenserorganisation Hamas und ihre ideologischen Verbündeten am 7. Oktober 2023 an Israelis auf israelischem Territorium verübt hatten, uneingeschränkte Solidarität zu. Sie haben immer wieder das Recht Israels auf Selbstverteidigung betont, welches den Anspruch mit einschließe, den Krieg in den Gazastreifen zu tragen. Dort verschanzte sich die Hamas in Tunneln, hinter der Zivilbevölkerung und den israelischen Geiseln. Noch monatelang feuerte die Hamas Raketen auf Israel ab.
Genehmigungen für Waffenexporte verzehnfacht
In seiner Regierungserklärung nach dem Massaker sagte Scholz am 12. Oktober, er habe "Premierminister Netanjahu gebeten", ihn über "jeglichen Unterstützungsbedarf zu informieren." Diese Unterstützungsbitten würden "wir unverzüglich prüfen und auch gewähren," so Scholz im Bundestag. Kein Wunder, dass die Genehmigungen der Bundesregierung für Waffenlieferungen an Israel in die Höhe schnellten. 2023 sind diese Exportgenehmigungen auf den Gesamtwert von 326 Millionen Euro gestiegen. Das ist zehnmal so viel wie im Vorjahr. Die Zahlen gab die Bundesregierung auf Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen (BSW) bekannt.
Gewehrmunition, Schulterwaffen, Radfahrzeuge, Elektronik und Kriegsschiffe - das genehmigte Arsenal geht quer durch das Spektrum des modernen Kriegshandwerks. Deutschland ist nach den Vereinigten Staaten der zweitwichtigste Waffenlieferant für Israel. Die Bundesregierung unterscheidet dabei zwischen "Kriegswaffen" und "sonstigen Rüstungsgütern", eine Differenzierung, die von Kritikern als künstlich bewertet wird. Denn ein Dieselmotor für einen Panzer oder Steuerungselektronik für Drohnen (sonstige Rüstungsgüter) dienen ebenso der Kriegsführung wie Panzerfäuste (eine Kriegswaffe).
Enge Rüstungskooperation auch abseits von Exporten
Differenzierung drängt sich eher in einem anderen Aspekt auf. Es ist nämlich ungenau, nur von deutschen Waffenlieferungen an Israel zu sprechen. Denn neben reinen Exporten gibt es eine enge industrielle Kooperation zwischen beiden Staaten in Rüstungsfragen. Waffensysteme werden gemeinsam entwickelt. Rüstungskonzerne haben Niederlassungen in beiden Staaten. Diese Zusammenarbeit hat sich in den vergangenen 15 Jahren im Zeichen der Doktrin von der Sicherheit Israels als "deutscher Staatsräson" intensiviert. Industriepolitisch kann dies für die Bundesregierung, wie man bei den U-Boot-Lieferungen sieht, ein eleganter Weg sein, heimische Rüstungsunternehmen mit Steuergeld zu subventionieren.
Deutsche Panzerfäuste offenbar in Gaza im Einsatz
Im Gaza-Krieg kommt etwa eine Schulterwaffe zum Einsatz, die Panzerfaust RGW 90, auch Matador genannt. Die Fabrik steht in Burbach im Siegerland, ihr Eigentümer ist inzwischen das israelische Rüstungsunternehmen Rafael. Im Jahr 2023 lieferte Deutschland 3.000 Panzerfäuste an Israel, darunter wohl viele vom Typ Matador. Der Begriff "Panzerfaust" führt etwas in die Irre, zumal wenn es um Gaza geht. Der Matador eignet sich bestens für den Stadtkrieg. Denn er kann nicht nur feindliche Panzer (über die die Hamas nicht verfügt), sondern auch Gebäude zerstören. In sozialen Netzwerken kursieren Videos, die israelische Soldaten zeigen, wie sie genau das tun.
Wie führt Israel den Krieg in Gaza, in dem auch deutsche Waffen und "sonstige Rüstungsgüter" zum Einsatz kommen? Bundeskanzler Scholz äußerte sich am 26. Oktober, also nach zweieinhalb Wochen intensiver israelischer Luftschläge, zuversichtlich: "Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten. Und deshalb kann man sicher sein, dass die israelische Armee bei dem, was sie macht, die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Daran habe ich keinen Zweifel."
Es wäre ein Understatement zu sagen, dass Scholz mit dieser Aussage nicht ins Schwarze getroffen hat. Im Laufe der vergangenen sechs Monate sind immer mehr Fakten bekannt geworden, die das Gegenteil nahelegen. Es beginnt mit der Zahl der unbeteiligten Todesopfer auf palästinensischer Seite. Mehr als die Hälfte der bislang gezählten 33.000 Toten sind Frauen und Kinder. Das sind, gemessen an der Zahl der Angriffe auf Gaza und an der dort lebenden Gesamtbevölkerung, deutlich mehr getötete Unbeteiligte als bei jedem Feldzug einer westlichen Armee in den vergangenen drei Jahrzehnten.
Experte: Israel begeht Kriegsverbrechen
Am genauesten hat dies Larry Lewis ermittelt. Lewis ist ein ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter des Pentagon, dessen Aufgabe darin bestand, Wege zu finden, wie eine moderne Armee zivile Opfer im Krieg minimieren kann. Er arbeitet heraus, dass Israel an diesem Ziel kolossal gescheitert ist.
Andreas Krieg, Experte für Militär und Internationale Beziehungen am renommierten King's College in London, verweist auf den Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei der Zielerfassung durch die israelische Armee im Gazastreifen. Die computergenerierte Zielerfassung sei so eingestellt, dass Dutzende Opfer unter Unbeteiligten in Kauf genommen würden, um einen einzigen Hamas-Kämpfer auszuschalten.
Erschwerend komme hinzu, so Krieg, dass, nachdem die Ziele von der KI ausgewählt worden seien, häufig "dumme Bomben", also ungeleitete Geschosse, die Wind und Wetter ausgesetzt sind, abgeworfen würden. Diese Bomben werden von den Vereinigten Staaten geliefert, nicht von Deutschland. Man dürfe sie nicht in dicht bewohntem Gebiet einsetzen, meint Krieg. "Intelligente" Zielerfassung und dumme Bomben - eine fatale Kombination. Der Wissenschaftler, der auch das britische Verteidigungsministerium berät, urteilt im Interview mit Panorama unmissverständlich: "Das ist ein Kriegsverbrechen".
Als weiteres Beispiel für offenkundige Verstöße Israels gegen das Ius in Bello, also das Kriegsvölkerrecht, nennt der Militärexperte die Sprengung ziviler Einrichtungen wie Universitätsgebäude, auch nachdem diese keinerlei militärischen Nutzen mehr für die Gegenseite hätten.
Berichte über mutmaßliche Kriegsverbrechen
Schwer belastet wird die Zwischenbilanz des israelischen Militärs von gravierenden Fällen, die weltweit bekannt wurden. So gingen von der israelischen Armee aus der Luft aufgenommene Bilder um den Globus, die festhalten, wie mehrere Personen, die augenscheinlich nicht an Kämpfen beteiligt sind, im südlichen Gazastreifen von bewaffneten Drohnen getötet wurden. Die Armee hat die Authentizität der Aufnahmen nicht bestritten. Sie hat allerdings behauptet, dass es sich bei den Getöteten um "Terroristen" gehandelt haben könnte. Man untersuche den Fall, sagte ein Armeesprecher einer israelischen Zeitung. Eine Anfrage von Panorama ließ die Armee unbeantwortet.
Für die gezielte Tötung von sieben Mitarbeitern der Hilfsorganisation "World Central Kitchen", die am 1. April in drei Fahrzeugen im Abstand von einigen hundert Metern im zentralen Gazastreifen unterwegs waren, hat die Armee den für die Operation unmittelbar verantwortlichen Offizier suspendiert mit der Begründung, dass es sich um "einen schweren Fehler" gehandelt habe. Die Frage bleibt, ob es nicht vielleicht Absicht war. Dies müsste in einem Strafverfahren aufgeklärt werden.
Die regierungskritische Zeitung "Haaretz" berichtete am 4. April einen Sachverhalt, der staatliche Akteure ebenfalls schwer belastet. In dem Artikel wird der Brief eines Arztes, der in einem Gefangenenlager tätig ist, an das Regierungskabinett zitiert. Der israelische Arzt berichtet, dass er regelmäßig Hände und Füße von palästinensischen Gefangenen aus Gaza amputieren müsse, nachdem diese sich durch die Dauerfesselung der Gliedmaßen verletzt hätten. "Wir sind alle schuldig", schreibt der Arzt, der offenbar von Gewissensbissen gequält ist, laut "Haaretz" an die Minister.
Wird der israelische Staat, in dem das Justizsystem seit Amtsantritt der gegenwärtigen Regierung Netanjahu am 29. Dezember 2022 unter Druck steht, die Kraft für Verfahren zur Aburteilung von Schuldigen im Krieg finden? Unklar. Falls nicht, wird sich die internationale Völkerstrafgerichtsbarkeit damit befassen müssen.
Die Bundesregierung könnte politisch in die Bredouille kommen
Es zeichnet sich jedenfalls ab: angesichts der katastrophalen Folgen des Feldzuges im Gazastreifen kommen auf die Bundesregierung wegen der Unterstützung Israels zumindest politische Probleme zu. "Die Bundesregierung ist mitschuldig an der Lage", meint Aref Hajjaj, ehemaliger Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes. Der pensionierte Beamte palästinensischer Herkunft, der für Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl dolmetschte und sie in Sachen Arabische Welt beriet, wirft der Regierung Scholz Einseitigkeit in der Nahostpolitik vor. Die enge militärische Zusammenarbeit mit der ultranationalistischen Regierung Netanjahu setze ein falsches Signal.
Werden deutsche Waffen bei mutmaßlichen Kriegsverbrechen eingesetzt?
Werden mit in Deutschland hergestellten Waffen Kriegsverbrechen begangen? Zumindest das Risiko liegt auf der Hand. "Alle, die an Israel liefern, alle, die die israelische Armee unterstützen, vor allem materiell und finanziell, haben eine Mitverantwortung," meint Andreas Krieg, der Experte vom King's College. "Da kann man Deutschland nicht ausnehmen."
Die Bundesregierung hält sich bedeckt. Der Frage, ob Kriegsverbrechen verübt wurden von Israel oder ob ein Risiko für Kriegsverbrechen besteht, weichen Kanzleramt und Auswärtiges Amt aus. Die Bundesregierung habe keine Erkenntnisse darüber, ob und wie von Deutschland gelieferte Waffen in Gaza eingesetzt werden. Die Bundesregierung hält sich zu Gute, öffentlich und in Gesprächen mit israelischen Verantwortlichen die Notwendigkeit der Einhaltung des Völkerrechts hervorzuheben. Außenministerin Baerbock hatte im März angekündigt, eine Fachdelegation nach Israel entsenden zu wollen, die mit der israelischen Seite über völkerrechtliche Fragen sprechen soll. Die Delegation ist bislang noch nicht losgereist, wie aus dem Auswärtigen Amt zu hören ist.
Die Hinweise auf das Völkerrecht sind für Aref Hajjaj Lippenbekenntnisse. Im Hinblick auf das jüngste Treffen von Scholz mit Netanjahu sagt er: "Ich hätte mir gewünscht, dass der Bundeskanzler Klartext redet." Die offensichtlichen Verstöße Israels gegen das Kriegsvölkerrecht hätte Scholz verurteilen und sagen sollen: "Wir lehnen das ab," so Hajjaj. Scholz hätte die Aussetzung von Waffenlieferungen zumindest androhen sollen.
Angekündigte Hilfslieferungen hängen weiter fest
Inzwischen gleicht der Gazastreifen einem unbewohnbaren und unregierbaren Trümmerhaufen, in dem sich allerdings noch rund zwei Millionen Menschen irgendwie am Leben halten. Nun dämmert der Bundesregierung, dass sie mit ihrer Nahostpolitik ein Problem hat. Außenministerin Baerbock wirbt für mehr Hilfslieferungen nach Gaza. Bei ihrem Besuch in Israel am 26. März berichtete sie von Lebensmitteln, die Deutschland mitfinanziert habe und beim World Food Program in einem Depot in Jordanien blockiert seien. Israel solle es ermöglichen, dass die Hilfsgüter nach Gaza gebracht werden. 100 Lastwagen am Tag sind geplant. Das Statement der Ministerin ist drei Wochen her. Der jordanische Außenminister war diese Woche in Berlin. Baerbock war diese Woche erneut in Nahost. Die Lebensmittel hängen nach Auskunft des Auswärtigen Amtes immer noch zum Großteil in Jordanien fest. Nur einige wenige Lkw sind als "Piloten" gefahren. Der tägliche Rettungskonvoi von 100 Lkw fährt immer noch nicht.
Wie es in Gaza weitergeht, weiß niemand. Scholz fragt in Jerusalem, ob der menschliche Preis für den Feldzug nicht zu hoch sei. Netanjahu kanzelt ihn auf offener Bühne ab: Israel tue alles, um zivile Opfer zu minimieren. Dem Vorrang politischer Lösungen erteilte der Premier eine Absage. Zuerst komme die Sicherheit durch Stärke. Das sagt Benjamin Netanjahu, der selbsternannte Mister Security, seit genau drei Jahrzehnten. Jetzt hat er ein alt-neues Argument: Die Konfrontation mit Iran. Netanjahu nutzt sie, um von der Katastrophe in Gaza abzulenken und Scholz sekundiert ihm nach Kräften. Die Verschiebung des Fokus auf die iranische Bedrohung ist ein Mechanismus, über den die rechtmäßigen Ansprüche der Palästinenser schon oft ins Abseits geraten sind. Gaza ist unangenehm für Netanjahu. Er hat weder den "totalen Sieg" über die Hamas errungen noch die Geiseln mit Waffengewalt befreit und ist damit bei seinen zentralen Kriegszielen gescheitert.
Aber Gaza ist auch unangenehm für Scholz. Im Namen der historischen Verantwortung für Israel hat der Bundeskanzler die auch von ultranationalistischen und rassistischen Parteien getragene Regierung vorbehaltlos unterstützt. Es war absehbar, dass nach der mörderischen Hamas-Attacke vom 7. Oktober ein Rachefeldzug beginnen würde, der auch Tod und Zerstörung erzeugt. Diese Risiken missachtet zu haben, wird in das Vermächtnis der Regierung Scholz eingehen.