Geiseln in der Hand der Hamas: Was kann Deutschland tun?
Deutschland hat sich eine Verantwortung für die sichere Heimkehr aller entführten Israelis zugeschrieben. Ob und in welchem Maß die Bundesregierung dieser nachkommt, bleibt vorläufig im Dunkeln.
Wenn die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist, wie die deutsche Politik von der CDU über die SPD bis zu den Grünen verkündet, dann muss das gewiss auch für die Sicherheit der israelischen Staatsbürger gelten. Erst recht dürfte es gelten für die wohl mehr als 200 unbescholtenen israelischen Staatsbürger, die von der Hamas und anderen radikalen palästinensischen Organisationen am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppt wurden.
"Wir arbeiten mit ganzer Kraft daran, dass alle Geiseln wieder freikommen," sagte Bundeskanzler Olaf Scholz am 12. Oktober in seiner Regierungserklärung zu dem Angriff der Hamas auf israelisches Territorium, bei dem die Terroristen mehr als tausend Israelis ermordeten.
Qatar als diplomatischer Kanal zur Hamas
Sehr wenige Geiseln sind bisher frei gekommen. Etwa Judith Raanan und ihre Tochter Natalie, die sowohl die israelische als auch die US-amerikanische Staatsangehörigkeit haben. Für ihre Freilassung hat die Regierung von US-Präsident Joe Biden allerdings nicht direkt mit der Hamas verhandelt. Das Emirat Qatar vermittelte.
Spätestens seitdem ist klar: Dem kleinen Nachbarstaat von Saudi-Arabien am Persischen Golf kommt in der Geiselfrage eine Schlüsselrolle zu. Denn Qatar hat gute Beziehungen zur Hamas. Der politische Chef der palästinensischen Terrororganisation Ismail Haniye und seine Gefolgsleute residieren in dem reichen Golfemirat. Es gibt Bilder aus der Corona-Zeit, die zeigen, wie der Emir von Qatar, Tamim bin Hamad Al Thani, Hamas-Führer Ismail Haniye in seinem Palast empfängt. Zudem unterhält Qatar gute Beziehungen zum Hauptwaffenlieferanten der Hamas, der Islamischen Republik Iran, mit der das Emirat sich das größte Gasfeld der Welt unter dem Persischen Golf teilt.
"Qatar ist ein wichtiger diplomatischer Kanal zur Hamas in der gegenwärtigen Situation, der von Deutschland zur Geiselbefreiung auch genutzt werden sollte," sagt Prof. Eckart Woertz, Direktor des Giga-Instituts für Nahost-Studien in Hamburg.
Qatar kann gut mit der Hamas und Iran, aber eben auch mit den Vereinigten Staaten, die im Emirat ihren größten Militärstützpunkt im Mittleren Osten eingerichtet haben, und mit Deutschland, wo das Emirat über seinen Staatsfonds an großen Firmen beteiligt ist. Zum Beispiel hält Qatar 7,6 Prozent an der Deutschen Bank, 12,3 Prozent an der Hamburger Reederei Hapag Lloyd und 17 Prozent Anteile an Volkswagen.
Finanzielle Bande zwischen dem Westen und Qatar
Der Westen habe sich an die Vorteile von Investoren wie den Staatsfonds von Qatar gewöhnt, erklärt Nahostexperte Woertz. "Wenn irgendwo mal eine westliche Bank in Schieflage gerät, dann sind solche Staatsfonds gern gesehene Investoren, weil sie schnell und unbürokratisch größere strategische Investments tätigen können."
Hinzu kommt, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, die Rolle Qatars als Gaslieferant. Die Bundesregierung hat mit dem Emir vereinbart, ab 2026 jährlich 2,7 Milliarden Kubikmeter Gas von Qatar zu kaufen, was etwa drei Prozent des deutschen Bedarfs entspricht. Der Rohstoff soll in Form von Flüssiggas per Schiff geliefert werden.
Es ist ein merkwürdiges Phänomen. Ein reicher Zwergstaat, der sich überall auf der Welt, auch in Deutschland, einkauft, der den Vereinigten Staaten von Amerika eine Militärbasis schenkt und der gleichzeitig eine terroristische Organisation wie die Hamas hätschelt. Die Welt hat dieses Spiel mitgespielt. Mit Zustimmung der USA, Europas und diverser israelischer Regierungen unter Premierminister Benjamin Netanjahu hat Qatar jahrelang Geld an die Hamas im Gazastreifen überwiesen und so die De-Facto-Herrschaft der nationalistisch-islamistischen Palästinensergruppe finanziert.
Sollte Deutschland drohen?
Das Massaker und die Geiselnahme vom 7. Oktober stellen einen Bruch dar. Soll ein Staat wie Deutschland den Emir jetzt höflich bitten, ob er vielleicht etwas für die Geiseln tun könne? Yaakov Peri, ehemaliger Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, meint: Nein! "Deutschland muss die Tatsache nutzen, dass es in wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Qatar steht. Nach meiner Einschätzung kann Deutschland es sich erlauben, zu drohen, Beziehungen zu kappen," meint Peri im Interview mit Panorama.
Die Bundesregierung könne etwa drohen, doch kein Gas aus Qatar zu kaufen, wenn es mit der Freilassung der Geiseln nicht vorangehe. "Im Nahen Osten versteht man die Sprache der Macht. Nett sein, freundlich sein, ist kein Weg. So kommt man bei der Hamas nicht weiter. Entsprechend muss man auch mit den Qataris sprechen. Und die Qataris wissen dann schon, wie sie mit der Hamas zu reden haben," erklärt Peri. Es gehe jetzt nicht um Freundschaften, sondern um Ergebnisse.
Dafür, dass die Bundesregierung jetzt Härte gegenüber Qatar zeigen würde, gibt es keine Anhaltspunke. Kanzler Scholz hat Emir Tamim bin Hamad am 12. Oktober im Kanzleramt empfangen. Dass er mit Konsequenzen gedroht hätte, falls Qatar nicht für die Freilassung der Geiseln sorgt, ist nicht überliefert. Auf diesbezügliche Fragen geht das Kanzleramt nicht ein. Beim Besuch des Emirs in Berlin habe Scholz mit ihm über die Geiselfrage gesprochen, teilt das Kanzleramt auf Panorama-Anfrage mit. Aber wie über das Thema gesprochen wurde, dazu schweigt der Sprecher von Scholz. Zu Details werde man sich nicht äußern. "Die Bundesregierung arbeitet mit ganzer Kraft daran, dass alle Geiseln wieder freikommen - in enger Abstimmung mit Israel und Partnern in der Region und natürlich mit der gebotenen Vertraulichkeit," heißt es in der Stellungnahme des Kanzleramts.
Negative Folgen für die deutsch-qatarischen Beziehungen?
Außenministerin Annalena Baerbock hat ihren qatarischen Amtskollegen, Muhammad bin Abd ar-Rahman bin Jassim Al Thani, seit Beginn der Krise zweimal getroffen, zuletzt am 11. November am Rande des arabisch-islamischen Gipfeltreffens in Riyadh, Saudi-Arabien. Die israelischen Geiseln waren Thema der Gespräche, so die Auskunft des Auswärtigen Amtes. Aber auf die Frage, ob Baerbock ihrem Amtskollegen negative Folgen für die deutsch-qatarischen Beziehungen in Aussicht gestellt habe für den Fall, dass die Geiseln weiter in der Gewalt der Hamas bleiben, geht ihr Sprecher nicht ein.
"Das Auswärtige Amt nutzt alle Gesprächskanäle, um auf die Akteure in der Region einzuwirken und hält engen Kontakt mit den Angehörigen der von der Hamas verschleppten Personen," schreibt der Ministeriumssprecher in einem Statement. Die "Möglichkeit" der Freilassung der Geiseln habe in Baerbocks Gesprächen "höchste Priorität."
Eckart Woertz, der Experte für die Golfregion, sieht Deutschland in einer ungünstigen Ausgangslage für eine härtere Gangart gegenüber Qatar. Der Zwergstaat könne es sich erlauben, Deutschland nicht so ganz ernst zu nehmen. Sein Gas könne er woanders verkaufen, etwa in Asien. Das Emirat habe erkannt, dass Deutschland und Europa "politische Leichtgewichte" auf der Weltbühne seien. Das zeige sich für alle, auch für Qatar, in der uneinheitlichen Position zum Nahostkonflikt.
Deutschland werde von Qatar zudem als einseitig pro-israelisch betrachtet, "als klar parteiischer Akteur", so Woertz. Da sei es schwierig, "auf der internationalen Bühne Staat zu machen". Die Bundesregierung werde nach Einschätzung von Woertz lange Finger haben, die qatarischen Investments in Deutschland anzutasten. Denn dann ginge ja "Vertrauen in den Finanzplatz Deutschland" verloren.
Berechtigte Zweifel
Ist die Bundesregierung, im Namen der Staatsräson, bereit, hier Opfer zu bringen und eventuell einen wirtschaftlichen und politischen Preis zu zahlen? Zweifel sind angebracht. Mutig in die Auseinandersetzung geht Deutschland eher bei weicheren Themen. Wir erinnern uns, wie es war vor einem Jahr bei der Fußballweltmeisterschaft, als die Nationalmannschaft sich in heroischer Geste den Mund zuhielt.
Qatar ist also fein raus, obwohl die allermeisten Geiseln noch immer in der Hand der Organisation sind, deren Politchef in der qatarischen Hauptstadt Doha residiert. Wieviel das Emirat sich in diesem Spiel erlauben kann, lässt sich an der Öffentlichkeitsarbeit der Gasmonarchie ablesen. Von Doha aus sendet der mit Abstand größte und meistgesehene arabische Fernsehkanal, al-Jazeera.
Seit dem Morgen des 7. Oktober verbreitet der Sender, den die qatarische Herrscherfamilie kontrolliert, Hamaspropaganda in Dauerschleife. Den Überfall auf den Süden Israels stellte al-Jazeera als heldenhaften Angriff dar. Das Massaker an wehrlosen israelischen Zivilisten wurde in der Berichterstattung verschwiegen. Die "fehlende Menschlichkeit" beklagt al-Jazeera einzig und allein, wenn Zivilisten in Gaza bei dem Beschuss durch die israelische Armee sterben.
Ist Deutschland machtlos?
Trotz Kontakten zur Herrscherfamilie von Qatar: Es bleibt der Eindruck der Machtlosigkeit Deutschlands und des gesamten Westens einschließlich der USA. Man hat die Welt so eingerichtet, dass der reiche Kleinstaat am längeren Hebel sitzt.
Nicht gerade leichter wird die Freilassung der Geiseln durch die Tatsache, dass Israel von der ultranationalistischen bis rechtsradikalen Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu regiert wird. Das Versagen vom 7. Oktober, als eine Mörderbande ungehindert in Israel einfallen konnte, versucht Netanjahu durch eine möglichst rücksichtslose Kriegführung im Gazastreifen zu überspielen. Brutales Zuschlagen soll die Schmach ausmerzen und ihn an der Macht halten.
Je höher der militärische Druck auf die Hamas, desto größer die Chancen, dass die Geiseln freikommen, erklärte Netanjahu mehrfach. Eine Waffenruhe komme erst nach der Freilassung aller Geiseln in Frage. Ist das ein Rezept für einen glücklichen Ausgang wenigstens in der Geiselfrage? Die Frage, ob die Bundesregierung die Ansichten und Einschätzungen des israelischen Regierungschefs teilt, beantworten weder Kanzleramt noch Auswärtiges Amt.
Keine Waffenruhe vor Freilassung aller Geiseln
Ex-Geheimdienstchef Peri meint, die Wette von Netanjahu sei riskant. So sehr die Hamas unter Druck zu Konzessionen gedrängt werden könne, so groß sei die Gefahr, dass Geiseln durch israelisches Feuer getroffen werden könnten, sagt er im Interview. Wenn sie umkämen, sei das nicht nur eine Tragödie für die Angehörigen, sondern für die gesamte israelische Gesellschaft, so Peri. "Ich möchte darüber gar nicht nachdenken."
Nach Recherchen von Panorama hält sich eine deutsche Delegation in Israel auf, um sich mit der Geiselfrage zu befassen. Um welches Personal es sich dabei handelt, wieviele Mitarbeiter es sind und worin genau ihre Tätigkeit besteht, dazu wollte das Auswärtige Amt nichts Genaues mitteilen. In der Stellungnahme heißt es, man habe einen Sonderstab eingerichtet, der „in engem Austausch und intensiver Abstimmung mit den israelischen Behörden sowie anderen Partnern in der Region und darüber hinaus“ stehe. Der Krisenbeauftragte führe Gespräche in der Region. Geheimhaltung rund um das Geiseldrama ist verständlich und richtig. Sie erhöht die Chancen für erfolgreiche Verhandlungen und damit für einen Deal. Aber Geheimhaltung kann auch einen anderen Zweck erfüllen: Die mögliche eigene Untätigkeit bleibt so auch geheim.
"Deutsche Staatsräson"
Mehr als ein Dutzend der Entführten haben neben der israelischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Aber macht das einen Unterschied? "Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson." Scholz, Baerbock und Habeck erweisen sich durch die ständige Wiederholung des Satzes als eifrige Erben der Langzeitkanzlerin Angela Merkel, die das Prinzip eingeführt hat.
Im Falle der nach Gaza Verschleppten bedeutet dies, dass Deutschland sich eine Verantwortung für die sichere Heimkehr aller entführten Israelis zugeschrieben hat. Die Bundesregierung hat es bei der Achse Hamas-Iran-Qatar und bei der Regierung Netanjahu mit Akteuren zu tun, die mit dem Feuer spielen. Ihnen muss Einhalt geboten werden, wenn die Geiseln überleben und freikommen sollen. Ob und in welchem Maß die Bundesregierung dieser Verantwortung nachkommt, bleibt vorläufig im Dunkeln.