Stand: 16.11.2023 21:45 Uhr

Geiseln in der Hand der Hamas: Was kann Deutschland tun?

Manuskript des Panorama-Beitrags vom 16.11.2023

Anmoderation Anja Reschke: "Auch heute waren wieder israelische Angehörige von Geiseln in Berlin und haben mit Politikern gesprochen. Eine Mutter etwa, deren Mann und 12jähriger Sohn verschleppt wurden. Seit mehr als 40 Tagen weiß sie nicht, ob er noch lebt oder nicht. Oder ein älterer Mann. Sieben Angehörige seiner Familie sind unter den Geiseln, auch seine zwei und acht Jahre alten Enkel. Sie alle hoffen auf Unterstützung durch die deutsche Regierung. Deutschland, der Kanzler persönlich hat zugesagt, zu helfen. Doch was heißt das jetzt konkret? Was kann Deutschland tun? Stefan Buchen."

Mehr als 200 Israelis, von der Hamas entführt nach Gaza. Die Fotos sind in mehreren deutschen Städten aufgestellt, wie hier in Hamburg. Die Bundesregierung hat sich für zuständig erklärt.

O-Ton Olaf Scholz, SPD, Bundeskanzler: "Wir arbeiten mit ganzer Kraft daran, dass alle Geiseln wieder freikommen."

Will Scholz damit Erfolg haben, führt an einem Verhandlungspartner kein Weg vorbei - Qatar. Wie nah der reiche Golfstaat an der Hamas ist, zeigt der große Fernsehkanal, der von hier sendet, al-Jazeera. Der 7. Oktober war für al-Jazeera ein Glückstag. Eben weil da die Hamas Israel überfallen hat. Der Sender feiert den Terrorangriff als raffinierten Eroberungsfeldzug. Die Geiselnahme wird hier als Heldentat verherrlicht. In begeisterter Erregung schildert der Kommentator den Tod eines israelischen Soldaten. Seine Leiche lassen sie auf den Boden gleiten, der ihren Vätern Großvätern gehörte, sagt der Kommentator.

O-Ton Prof. Eckart Woertz, Direktor Giga-Institut für Nahost-Studien: "al-Jazeera gehört dem Staat selber, wie vieles in Qatar. Gerade was Hamas betrifft, wird da schon eine sehr ideologische Linie gefahren. Hier wird schon massiv diese Fiktion eines Gesamtpalästina vertreten, wo der israelische Staat als solcher nicht vorkommt."

Aber Qatar macht nicht nur Propaganda für die Hamas. Hier wohnt auch die politische Führung der Terrortruppe. Hamas-Chef Isma´il Haniye, links im Bild, hat sogar Zugang zum Emir von Qatar.

O-Ton Yaacov Peri, Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet a.D.: "Qatar ist ein ziemlich islamischer Staat. Ein religiöser Staat. Qatar hat beste Beziehungen nach Gaza, weil es beste Beziehungen zur Hamas hat."

Yaacov Peri war Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet. Er hat jahrzehntelange Erfahrung mit Geiselnahmen.

O-Ton Yaacov Peri: "Qatar ist der Schlüsselstaat. Denn die Hamas hört auf Qatar. Druck auf die Herrscher von Qatar kann helfen und die Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln voranbringen. Qatar ist der Schlüssel."

O-Ton Prof. Eckart Woertz, Direktor Giga-Institut für Nahost-Studien: "Qatar ist ein wichtiger diplomatischer Kanal zur Hamas in der gegenwärtigen Situation, der von Deutschland zur Geiselbefreiung auch genutzt werden sollte."

Fünf Tage nach der Geiselnahme empfing Olaf Scholz den Herrscher von Qatar, den Emir Tamim bin Hamad Al Thani. Scholz sprach mit dem Schutzpatron der Hamas über die Geiseln. Aber was und wie der Kanzler mit dem Emir sprach, bleibt geheim.

O-Ton Jaakov Peri, Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet a.D.: "Qatar möchte Einfluss in der Welt haben. Obwohl es ein sehr kleiner Staat ist, ist es ein sehr wichtiger Staat. Und Qatar hat ein Interesse daran, in der Welt akzeptiert und respektiert zu werden. Dieses Element muss man ausnutzen."

Die Verbindung zur Hamas hat Qatar bisher bei der Suche nach Weltgeltung nicht geschadet. Der Emir durfte sogar Gastgeber der Fußball-WM sein. Und er hat sich eingekauft in die deutsche Wirtschaft. An der Deutschen Bank hält Qatar 7,6% der Anteile. An der Reederei Hapag-Lloyd 12,3 % und von Volkswagen gehören dem Emirat sogar 17%. Und wir erinnern uns: als Gas-Lieferant Russland ausfiel, ging der Bundeswirtschaftsminister zum Emir von Qatar, um Gas für Deutschland einzukaufen.

Die Forderung aus Israel ist klar:

O-Ton Jaakov Peri, Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet a.D.: "Deutschland sollte die Tatsache nutzen, dass es in wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Qatar steht. Und nach meiner Einschätzung kann Deutschland es sich erlauben, zu drohen, Beziehungen zu kappen, um das Schicksal der Geiseln zu verbessern."

 Dem Emir drohen, seine Anteile an den deutschen Großunternehmen zu beschlagnahmen? Den Gasdeal aufzukündigen? Klar ist: Härte gegen Qatar, etwa die Aufkündigung des Gas-Einkaufs, hätte einen Preis.

O-Ton Prof. Eckart Woertz, Direktor Giga-Institut für Nahost-Studien: "Es ist doch kein Problem für Qatar, da andere Kunden zu finden. Und umgekehrt ist es ein ziemliches Problem für Deutschland, wenn auf einmal die Gaspreise hier wieder hochgehen und die AfD bei 22 Prozent oder so in Umfragen liegt."

Es ist ein Dilemma. Die Bundesregierung hat gesagt, sie wolle sich für die Freilassung der Geiseln einsetzen. Die deutsche Politik hat uneingeschränkte Solidarität mit Israel zugesagt.

O-Ton Olaf Scholz, SPD, Bundeskanzler: "Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson."

Für den ehemaligen israelischen Geheimdienstchef bedeutet das: die Zeit ist gekommen, härtere Töne anzuschlagen.

O-Ton Jaakov Peri, Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet a.D.: "Ich denke, hier ist ein vielversprechender Ansatz:  Deutschland könnte den Qataris mit dem Abbruch der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen drohen. Im Nahen Osten versteht man die Sprache der Macht. Nett sein, freundlich sein, ist kein Weg. So kommt man bei der Hamas nicht weiter. Entsprechend muss man auch mit den Qataris sprechen. Und die Qataris wissen dann schon, wie sie mit der Hamas zu reden haben."

Wir fragen im Kanzleramt nach. Scholz geht auf den Vorschlag, Qatar mit dem Abbruch der Beziehungen zu drohen, nicht ein. Außenministerin Baerbock ist jetzt konkret zuständig für die Geiselfrage. Sie hat ihren qatarischen Amtskollegen zuletzt am vergangenen Wochenende getroffen. Was und wie spricht sie mit ihm? Auf Anfrage teilt ein Sprecher des Auswärtigen Amtes mit: "Man nutze alle Gesprächskanäle, um auf die Akteure in der Region einzuwirken. Die Möglichkeit der Geiselfreilassung habe höchste Priorität."

Trotz höchster Priorität: seit 40 Tagen sind sie jetzt in Geiselhaft. Für die Bundesregierung wird klar: im Ernstfall ist es schwierig, dem hohen Maßstab der Staatsräson zu entsprechen.  

Bericht: Stefan Buchen
Kamera: Sven Barends, Torsten Lapp, Michael Shubitz
Schnitt: Oliver Henze, Ute Özergin, Andreas Sievert

 

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 16.11.2023 | 21:45 Uhr

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