Ukraine: Der Krieg und die Kinder
Manfred Hüllen ist Kind des Zweiten Weltkrieges: An Schulen trifft er ukrainische Kinder wie Aleksandra - die heutigen Kriegskinder.
"Das hätte ich nie geglaubt, dass das noch mal passiert, dass die Menschen Angst davor haben müssen, einen geliebten Menschen zu verlieren, ihre gewohnte Umgebung zu verlieren, all das, was sie sich aufgebaut haben. Und das verbindet mich auch mit den Kindern von heute. Man kann sagen: Hallo Kinder! Ich weiß, wie Ihr euch jetzt fühlt. Das ist schon eine ganz ganz große Scheiße!" Das hatte Manfred Hüllen uns im März 2022, kurz nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte, im Panorama-Interview gesagt.
Hüllen ist Jahrgang 1939, Kriegskind. Der Beginn des Ukraine-Kriegs machte ihm im Frühjahr 2022 große Angst. Mehr noch: Er stand plötzlich wieder mitten im Krieg, zitterte wie als Kleinkind im Bunker und weinte um seine kleine Schwester, die achtjährig bei einem Tieffliegerangriff ums Leben kam. Es war, als sei es gestern geschehen, und man spürte, dass die Wunden des Krieges ein Leben lang bleiben. Manfred Hüllen wusste das und warnte deshalb: Genau das, was er erleben musste, würde jetzt den ukrainischen Kindern passieren. "Die Herzen der Kinder sind verwundet, und zwar nicht nur jetzt für einen Moment. Sie sind für ihr Leben lang verwundet! Die werden das ihr Leben lang nicht loswerden!"
Helfen, aufklären - und zuhören
Wie geht es Kindern ein Jahr nach Kriegsbeginn? Und wie geht es Manfred Hüllen?
Um seiner Ohnmacht über einen erneuten Krieg in Europa etwas entgegenzusetzen, muss er etwas tun. Ruhelos ist er, traurig und kämpferisch zugleich. Manfred Hüllen will helfen, aufklären und zuhören.
Er geht in Schulen und erzählt Kindern und Jugendlichen vom Krieg. Manfred Hüllen trifft auch ukrainische Schülerinnen und Schüler, die nach der Flucht in der Fremde ein neues Leben beginnen müssen. Etwa Aleksandra. Die 16-Jährige floh mit ihrer Familie aus Donezk. Seit vielen Monaten leben sie in Norddeutschland, doch Alexandra ist untröstlich, denn ihr erster Freund, ihre erste große Liebe, ist in der Ukraine geblieben.
Wenn der Weg zurück unmöglich scheint
Wir treffen Aleksandra und ihre Mutter in einem Gemeindehaus. Zufällig steht dort ein Klavier. Alexandra kommt zur Tür herein und setzt sich, ohne zu zögern, an das Klavier.
Sie spielt "Faded", ein Lied, das von einer Liebe erzählt, die langsam verblasst. "In dem Lied geht es um eine zerbrochene Liebe, ein zerbrochenes Herz und irgendwie hat es auch mit mir zu tun. Nicht weil mir jemand mein Herz gebrochen oder mich verletzt hätte. Die Entfernung, die durch den Krieg entstanden ist, hat mein Herz in zwei Teile gebrochen. Auf der einen Seite ist mein Freund, auf der anderen ich." Ihr Freund ist in der Ukraine geblieben.
Nachdem der letzte Ton des Liedes gespielt ist, muss Aleksandra erst einmal den Raum verlassen. Weint. Ihre Mutter tröstet sie, auch wenn sie selbst darum trauert, dass sie ihr bisheriges Leben in der Ukraine lassen musste. Neu zu beginnen sei nicht einfach, schon gar nicht, wenn der Weg zurück nach einem Jahr Krieg unmöglich erscheint. "Anfangs hatten wir das nicht verstanden, dass wir alles endgültig zurücklassen. Irgendwie dachten wir, dass wir doch noch zurückkommen. Tatsächlich jetzt fast ein Jahr später sind wir wie an einer Kreuzung. Die Zeit vergeht, die Kinder lernen die Sprache. Ich stelle fest, dass die Kinder beginnen sich darüber Gedanken zu machen wie das Leben hier sein wird. Und jetzt kommt ein Jahr später der schwierigste Moment für mich. Ich begreife, dass die Fäden in die Vergangenheit sich von alleine auflösen."
"Jeder Tag Krieg ist einer zu viel"
Und Manfred Hüllen wird nicht müde zu mahnen: "Krieg ist etwas Existentielles! Krieg kann Dein ganzes Leben zerstören oder behindern. Das muss aufhören. Jeder Tag Krieg ist einer zu viel."