Spekulanten greifen nach Arztpraxen
Nahezu unbemerkt haben Finanzinvestoren hunderte Arztpraxen in Deutschland aufgekauft. Sie spekulieren auf hohe Gewinne.
Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit haben Finanzinvestoren in den vergangenen Jahren hunderte Arztpraxen in Deutschland aufgekauft. Sie spekulieren auf hohe Gewinne. Und das hat Folgen für Ärzte und Patienten.
Der deutsche Gesundheitssektor ist offensichtlich attraktiv. So beschreiben ihn jedenfalls viele internationale Investmentfirmen. Sie haben Praxen als Renditeobjekte entdeckt und bereits hunderte, möglicherweise sogar tausende Arztsitze in Deutschland aufgekauft. Genaue Daten und Zahlen gibt es allerdings nicht. Der Wandel vollzieht sich nahezu unbemerkt.
Augenheilkunde besonders attraktiv für Investoren
Ein Bereich, der für Investoren offenbar besonders attraktiv erscheint, ist die Augenheilkunde. Nach Panorama-Recherchen gehören in Deutschland inzwischen mehr als 500 Augenarztpraxen internationalen Finanzfirmen. Das sind etwa dreimal so viele wie vor drei Jahren. Geschätzt arbeitet mittlerweile etwa ein Fünftel aller ambulant tätigen Augenärzte in Ketten von Investoren.
Die Panorama-Recherchen zeigen, dass verschiedene Ketten in kürzester Zeit sogar eine monopolartige Stellung in mehreren Städten und Landkreisen erreicht haben. So hat etwa ein Londoner Finanzinvestor seit 2019 über einen Fonds in Luxemburg mehrere regionale Verbünde in Schleswig-Holstein gekauft und zu einer Kette mit dem Namen "Sanoptis" zusammengeführt. Sie beschäftigt nun in Kiel offenbar mehr als die Hälfte aller ambulanten Augenärzte. Auch in Augsburg in Bayern scheint sie eine monopolpolartige Stellung erlangt zu haben. Genaue Daten sind jedoch nicht bekannt. Auf Fragen von Panorama zu verschiedenen Zahlen - etwa zu gekauften Praxen, durchgeführten Operationen und zum Umsatz - teilte Sanoptis mit, es beantworte "derartige Anfragen grundsätzlich nicht".
Lukrative Renditeerwartungen von bis zu 20 Prozent
Klar ist: Geld verdienen wollen die Investoren auf jeden Fall. Eine Renditeerwartung von 20 Prozent ist laut Finanzexperten üblich. Diese Gewinne erzielen sie, in dem sie Praxen hinzukaufen, sie in einem größeren Konzern zusammenführen und diesen dann einige Jahr später zu einem möglichst hohen Preis an einen anderen Investor weiterverkaufen. "Buy-and-Build" - "Kaufe-und-Wachse" - nennt sich die Strategie.
Die von Investoren geführten Ketten bieten Medizinern für ihre Arztsitze oft hohe Beträge und drängen so andere aus dem Markt. Und nicht nur in der Augenheilkunde zeigt sich dieser Trend. Investoren übernehmen auch Praxen von Zahnärzten, Radiologen, Orthopäden, Gynäkologen, Nierenfachärzten, Internisten und Allgemeinmedizinern.
Ausrichtung auf gewinnträchtige Operationen
Das bleibt offenbar nicht ohne Folgen - auch für die Patienten. Die Investoren bestreiten zwar vehement, dass sich die Versorgung verschlechtere. Doch zahlreiche Hinweise und Indizien zeigen etwas anderes: Ein System, in dem der wirtschaftliche Druck auf Ärzte steigt, das sich auf besonders gewinnträchtige Operationen ausrichtet und aus dem offenbar viel Geld aus der Solidargemeinschaft an unbekannte Profiteure fließt.
Panorama hat über Monate mit annähernd 100 Augenärztinnen und Augenärzten gesprochen. Viele berichten Ähnliches, wollen aber zumeist anonym bleiben. "Die Augenheilkunde ist ein Gewerbe geworden", sagt etwa eine Augenärztin im Interview. Sie hat für zwei große investorengeführte Ketten gearbeitet. "Es ist einfach ein Gewerbe, in dem möglichst viel Geld verdient werden soll." Sie berichtet davon, dass sie Patienten möglichst viele Zusatzleistungen verkaufen sollte, die sie selbst zahlen müssten - etwa für spezielle Untersuchungen. Vor allem sei es aber um die Operation des Grauen Stars gegangen. "Da sollten wir möglichst hohe Stückzahlen rekrutieren", sagt die Ärztin. Denn mit solchen einfachen Standard-Eingriffen lässt sich offenbar gut verdienen. Das geht auch aus Geschäftsberichten von großen Ketten hervor.
"Keiner von uns ist darauf aus, schnelles Geld zu machen"
Dem widersprechen die Betreiber von investorengeführten Praxen. "Keiner von uns ist darauf aus, schnelles Geld zu machen", sagt Kaweh Schayan-Araghi im Interview mit Panorama. Er ist Gründer der Augenarztkette "Artemis" und sitzt im Vorstand des Bundesverbands der Betreiber medizinischer Versorgungszentren (BBMV), einem Zusammenschluss von investorengeführten Arztketten. Ein Unternehmen werde nur wertvoller, "wenn der Ruf gut ist, wenn die Qualität gut ist", sagt Schayan-Araghi. Die Ketten würden die Versorgung sichern, da sie Praxen von älteren Kollegen übernehmen würden, die sonst keinen Nachfolger finden würden.
Allerdings berichten viele Augenärzte, dass es insbesondere in Ballungsgebieten für junge Mediziner kaum mehr möglich sei, sich selbstständig niederzulassen. Denn die großen Ketten würden hohe Summen für Arztsitze bieten. Die Preise seien in den vergangenen Jahren "explodiert", sagt etwa ein Kieler Augenarzt.
Zähne angebohrt, die gesund waren
Auch im Bereich der Zahnmedizin haben verschiedene Investoren hunderte Praxen innerhalb weniger Jahre übernommen. Und auch hier berichten Angestellte von einem wirtschaftlichen Druck. Eine Zahnärztin sagt etwa im Panorama-Interview, dass ihr regelmäßig Diagramme vorgelegt worden seien. Sie zeigten, welche Umsätze sie selbst erzielte - mit Brücken, Kronen oder Implantaten - und wieviel mehr die Spitzen-Zahnärzte in der Kette erreichen. Solche Daten seien ihr und ihren Kollegen angeblich zur Motivation vorgelegt worden. Sie habe sich aber vor allem unter Druck gesetzt gefühlt.
Sie sei selbst von sich erschrocken gewesen, dass viele Patienten von ihr Behandlungen bekommen hätten, die noch nicht nötig gewesen sein, sagt die Zahnärztin. Sie habe etwa Zähne angebohrt, die eigentlich noch gesund gewesen seien. Zudem habe es Druck gegeben, möglichst viel bei den Krankenkassen abzurechnen. Sie habe sich dann "irgendeine Begründung aus den Rippen geleiert, falls es mal zu einer Kontrolle kommt".
Empörung bei investorengeführten Zahnarztpraxen
Der Interessenverband der investorengeführten Zahnarztpraxen weist vehement zurück, dass so etwas systematisch vorkomme. Ein solches Vorgehen würde "unseren Grundsätzen widersprechen" und wäre darüber hinaus nicht im Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben, schreibt der Bundesverband für nachhaltige Zahnheilkunde (BNZK) auf Panorama-Anfrage. Investorengeführte Zahnarztpraxen würden weder anders abrechnen noch in die Behandlungsfreiheit der Ärzte eingreifen. Das belege eine Studie. Dafür wurden 24 Praxen befragt, an denen Investoren beteiligt sind. Auftraggeber waren die Ketten selbst.
Eine Studie, die die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung in Auftrag gegeben hat, kommt dagegen zu einem anderen Ergebnis. Demnach zielen investorengeführte Ketten stärker auf die Rendite ab. Sie würden "vermehrt betriebswirtschaftlich attraktivere Leistungen erbringen, während sie weniger attraktive Leistungen vernachlässigen", heißt es in der Studie des IGES Instituts aus dem Jahr 2020. Dafür wurden unter anderem Abrechnungsdaten verschiedener Zahnarzt-Praxisformen ausgewertet.
Studie: Okönomische Motive im Vordergrund
Auch eine weitere, aktuelle Untersuchung des Instituts zu anderen medizinischen Fachbereichen - unter anderem der Augenheilkunde, der Inneren Medizin und der Gynäkologie - kommt zu einer ähnlichen Schlussfolgerung: Praxen, die Finanzinvestoren gehören, rechnen höhere Kosten für vergleichbare Behandlungen ab. Die Autoren sehen die Ergebnisse als Beleg für die These, dass sich investorengeführte Praxen stärker an ökonomischen Motiven ausrichten.
Wie viele Praxen mittlerweile Investoren gehören, weiß niemand. Das Bundesgesundheitsministerium teilte Panorama auf Anfrage zu den augenärztlichen Ketten mit, es sei ihm nicht bekannt, "ob und inwieweit eine beherrschende Marktkonzentration" in einzelnen Bereichen vorliege und "worauf etwaige Konzentrationstendenzen zurückzuführen" seien. Insgesamt sei es auch rechtlich schwierig, den Markt stärker zu beschränken.
Das Bundeskartellamt teilte auf Anfrage mit, dass es in den vergangenen Jahren die Zukäufe der großen Augenarztketten nicht kontrolliert habe, da offenbar jede einzelne Übernahme unterhalb von relevanten Umsatzschwellen gelegen hat. Sollte es jedoch Hinweise darauf geben, dass es zu marktbeherrschenden Stellungen einzelner Unternehmen in einigen Regionen komme und zudem Probleme drohten, wie etwa steigende Preise oder eine schlechtere Versorgung von Patienten, könne das Amt eine sogenannten Sektoruntersuchung einleiten, um zunächst Daten zu dem Markt zu erheben.