Stand: 28.03.2019 06:00 Uhr

Sachsen und die Nazis: Plattes Klischee oder echtes Problem?

von Johannes Jolmes und Andrej Reisin

Bautzen, Dresden, Freital, Heidenau - und zuletzt immer wieder Chemnitz: Orte, die für rechtsradikale Umtriebe, für fremdenfeindliche Demonstrationen und zum Teil für offenen Hass und Nazi-Gewalt stehen. Alle diese Orte liegen in Sachsen. Kein Zufall, sagen viele, so sei er eben, "der Osten", irgendwie anders, irgendwie rechtsextrem, wahlweise ein Erbe der DDR oder der Nachwendezeit. Im Westen machen es sich viele recht einfach mit den Rechten, die es vermeintlich nur im Osten gibt.

VIDEO: Sachsen und die Nazis: Plattes Klischee oder echtes Problem? (8 Min)

"Sie kommen ja gar nicht von hier..."

Umgekehrt haben viele "Ossis" und insbesondere Sachsen längst abgeschaltet, wenn es um Rechtsradikalismus in ihrem Bundesland, in ihren Regionen geht. Die im schlimmsten Fall "Lügenpresse" genannten Medien aus dem Westen verstünden die Situation ohnehin nicht oder berichteten eben absichtlich falsch und feindselig. Ein Landrat aus Meißen brachte diese Haltung vor einer soeben ausgebrannten Flüchtlingsunterkunft auf den Punkt. Nach rechtsextremen Strukturen gefragt, antwortete er: "Davon weiß ich nichts - und Sie auch nicht, Sie kommen ja gar nicht von hier, Sie quatschen da einen Mist nach."

Titelblatt "Der Spiegel" © NDR Foto: Screenshot
Sachsen und der Rechtsradikalismus - reales Problem oder nur der verallgemeinernde "Wessi"-Blick?

Eine typische Reaktion? Typisch für Sachsen? Den "Osten"? Panorama hat in den vergangenen Monaten zahlreiche Gespräche mit denjenigen geführt, die sich in Sachsen zivilgesellschaftlich engagieren, in Jugendclubs, in der Opferberatung, bei der evangelischen Kirche. Sie agieren an vorderster Front gegen rechtsradikale Hetze und Rassismus. Wie steht es aus ihrer Sicht um die Demokratie in Sachsen und Ostdeutschland? Immerhin finden in diesem Jahr nicht nur Kommunal- und Europawahlen statt, sondern auch Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.

Was sagen die, die sich seit Jahren engagieren?

Sätze wie den des Meißener Landrats hat der Leipziger Rechtsanwalt und Grünen-Politiker Jürgen Kasek schon sein Leben lang gehört: "Anstatt sich zu fragen, ob das, was jemand sagt, vielleicht stimmt, fragt man: Woher kommt der, wer ist das überhaupt? Und dann heißt es: Ja, das wird alles von außen hier reingetragen, das sind die Wessis mit ihrer Kritik." Kasek ist in Markranstädt bei Leipzig geboren, hat sein Leben hier verbracht. Schon immer hat er sich gegen Rechtsextremismus engagiert, schon immer waren damit massive Bedrohungen und Gefahren verbunden. Noch immer werde vielerorts nach der Formel "nichts hören, nichts sehen, nichts sagen" agiert, so sein Eindruck. Dennoch, so betont er, habe sich die Situation insbesondere in Leipzig auch stark verbessert. In Vierteln, wo früher rechte Schlägerbanden präsent gewesen seien, gäbe es heute vielfach eine bunte und weltoffene Stadtkultur. So habe zum Beispiel der Pegida-Ableger "Legida" in Leipzig "keine Chance gehabt".

VIDEO: Kasek: "Überall Projekte und Menschen, die sich engagieren" (10 Min)

"Es ist Quatsch zu sagen, der Sachse oder die Sachsen sind so und so"

Auch der Pfarrer der Leipziger Peterskirche, Andreas Dohrn, betont, dass es immer darauf ankomme, an welchem Ort man sich genau befinde. "Es ist Quatsch zu sagen, der Sachse oder die Sachsen sind so und so", sagt der evangelische Geistliche. Mehr als 15 Jahre lang war er Seelsorger im eher ländlich geprägten Stollberg im Erzgebirge, baute dort eine kirchliche Jobbörse auf, um Langzeitarbeitslose wieder in Lohn und Brot zu bringen. Heute engagiert er sich in Leipzig unter anderem für Geflüchtete. Seiner Erfahrung nach kommt es darauf an, dass Politik und Zivilgesellschaft Hand in Hand agieren: "Wo sich Verantwortliche sehr frühzeitig klar zur Hilfe für Geflüchtete bekannt haben, war es für die rechten Strukturen sehr schwer", so Dohrn. Und umgekehrt? "Ob es Freital ist, ob es Heidenau ist oder Dresden: Man konnte dort überall rechtsextrem handeln, wo Bürgermeisterinnen und Bürgermeister Platz gelassen haben."

Tobias Burdukat © NDR Foto: Screenshot
Sozialarbeiter Tobias Burdukat kritisiert die gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Rechtsradikalismus.

Wie sieht es in ländlichen Regionen aus, zum Beispiel in Grimma? Hier hatte die AfD bei der Bundestagswahl 31,1 Prozent und wurde mit Abstand stärkste Partei. Der Jugendsozialarbeiter Tobias Burdukat stammt aus Grimma, hat sein ganzes Leben hier verbracht. Er arbeitet auf dem Gelände einer alten Fabrik, dem sogenannten "Dorf der Jugend", wurde schon mehrfach für sein Engagement ausgezeichnet, zuletzt mit einem renommierten Medienpreis. Doch in seinem Alltag nimmt Burdukat eine andere Normalität wahr: "Du kannst hier offen über die Straße laufen und jedem erzählen: Du bist Nazi. Es wird dich so gut wie keiner dafür ächten. Das wird nicht passieren. Weil das in der Wahrnehmung von vielen Leuten nichts Schlimmes ist."

Immer wieder in den Schlagzeilen: Chemnitz

Dass öffentliche Bekenntnisse zu Nazis manchmal kein Tabu mehr sind, konnte man zuletzt vor allem in Chemnitz beobachten. Vor gut zwei Wochen ehrte man im Fußballstadion des Chemnitzer FC den verstorbenen Fan Thomas "Tommy" Haller. Sein Bild prangte auf der Anzeigetafel, der Stadionsprecher verlas eine Beileidsbekundung, Trauermusik wurde gespielt. Das Problem: Tommy Haller war nicht nur ein Fan, sondern vor allem ein stadt- und landesweit bekannter Rechtsextremer. Er gründete in den 90ern eine berühmt-berüchtigte Schlägertruppe, die sich selbst "HooNaRa" nannte: Hooligans, Nazis, Rassisten.

Choreographie für Thomas Haller © NDR Foto: Screenshot
Löste bundesweite Empörung aus: Die Choreographie der Fans des Chemnitzer FC für den verstorbenen Neonazi Thomas Haller.

Nach dem Gedenken war die bundesweite Empörung wieder einmal groß. Denn schon im vergangenen Spätsommer hatten sich die Ereignisse in Chemnitz zugespitzt - auch damals waren Teile der Fanszene massiv beteiligt. Nachdem ein junger Mann mutmaßlich von Asylbewerbern niedergestochen wurde und seinen Verletzungen erlag, randalierten Hooligans und angereiste Nazi-Schläger an mehreren Tagen in der Stadt. Hitlergrüße und Sprechchöre wie "Wir sind die Krieger, wir sind die Fans - Adolf Hitler Hooligans" waren zu hören - teilweise unter Gelächter und Applaus der vermeintlich ganz normalen Demonstrationsteilnehmer.

Auf solche Aufmärsche angesprochen, reagieren sächsische Politiker oft gereizt. Sachsen sei ein ganz normales Land, findet auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU): "Es gibt in Sachsen Rechtsextremismus, wie es ihn auch in Deutschland gibt,  und jeder Rechtsextremist ist einer zu viel. Wir müssen da einen aktiven Kampf führen. Ich finde, wir sollten uns da nicht gegenseitig Vorurteile oder Unterstellungen machen."

"Wir sind mehr"?

Stephan Conrad © NDR Foto: Screenshot
Stephan Conrad fühlt sich von den Berichterstattung über Sachsen nicht beleidigt, sondern eher herausgefordert.

Nazis gäbe es überall, aber die anderen seien in der Mehrheit. Ein Glaubenssatz, der auch in fortschrittlichen Kreisen gepflegt wird, etwa bei einem Konzert gegen Rechts in Chemnitz. Mehr als 60.000 Besucher aus ganz Deutschland feierten - unter dem erklärten Motto: "Wir sind mehr" - die Demokratie und sich selbst. Aber sind diese Menschen in Sachsen wirklich in der Mehrheit? Stephan Conrad hat da gewisse Zweifel. Der gebürtige Sachse leitet einen Jugendclub in Döbeln. Das Konzert-Motto "Wir sind Mehr" hält er für ein gefährliches Verkennen der Realität: "Was definiert überhaupt dieses 'wir'? Wenn das Demokraten meint, dann sind wir tatsächlich die Mehrheit. Wenn man es aber unterteilen würde in Menschen, denen alles egal ist oder die sich nicht wirklich interessieren, dann würde ich schon sagen, dass die, die krass engagiert sind, in der Minderheit sind in Sachsen."

Conrad ist in Döbeln aufgewachsen, nie weggezogen. Dass die Medien seine Heimat immer wieder mit Rechtsextremismus in Verbindung bringen - für ihn weniger Beleidigung als vielmehr ein Weckruf: "Ich fühle mich nicht beleidigt, aber ich fühle mich angesprochen, dass es auch in Sachsen ganz viele Menschen gibt, die sich für eine offene Gesellschaft engagieren, die sich für Menschen, Geflüchtete einsetzen, aber ich finde es auch richtig, dass diese Probleme endlich beim Namen genannt werden. Nicht umsonst konnte sich ein NSU in Sachsen verstecken, nicht umsonst ist die NPD zweimal in den Landtag eingezogen, und nicht umsonst läuft Pegida hier immer noch wöchentlich in Dresden."

"'Hier ist es wie überall' ist Quatsch"

Auch Pfarrer Dohrn findet es falsch, pauschal zu sagen: "Hier gibt es keine Nazis". Erst wenn man anerkenne, dass Dinge existieren, aber nicht normal seien, könne man die Nazis auch zurückdrängen: "Neulich kam eine Studie heraus, dass es für Geflüchtete in manchen Teilen von Ostdeutschland zehnmal gefährlicher ist als in anderen Teilen zu leben. Das heißt, das alte CDU-Sachsen-Argument, 'hier ist es wie überall', ist Quatsch. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass es Quatsch ist. Das heißt, bei diesem 'Wir sind mehr' muss man immer unterscheiden, von welchem Ort man redet."

Wer pauschal alle Sachsen oder gar "Ossis" als Nazis bezeichnet, will nur verunglimpfen. Genauso trügerisch aber ist das immer gleiche Mantra, hier sei alles ganz normal. An vielen Orten sind Rechtsradikale nämlich leider normaler, als es die Demokraten wahrhaben wollen.

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Der Panorama-Beitrag vom 28. März 2019 als PDF-Dokument zum Download. Download (168 KB)

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 28.03.2019 | 21:45 Uhr

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