Sachsen: Kretschmers Kampf gegen Windmühlen
Wenn es bürgernah sein soll, gibt es meistens Wurst. Michael Kretschmer, Sachsens Ministerpräsident, grillt sie bei seinen Wahlkampfveranstaltungen gerne selbst. Er steht dann in Hemd und Krawatte am Feuer, brutzelt Thüringer Bratwürste und beantwortet Fragen von potentiellen Wählern und Journalisten. An diesem Abend ist er in Görlitz, seiner Heimatstadt. Dort, wo er bei der vergangenen Bundestagswahl dem AfD-Kandidaten unterlag. Eine der Lehren, die er aus der Niederlage gezogen hat: "Es ist in den Jahren seit 2015 unglaublich viel übereinander und nicht miteinander geredet worden". Jetzt will er reden, mit so vielen Bürgern wie möglich. Und zuhören - in jedem Wahlkreis mindestens einmal.
Die großen Fragen: Klima, Flüchtlinge, Sicherheit
Vor 18 Monaten wurde Kretschmer Regierungschef. Seit 18 Monaten tourt er durchs Land, grillt, redet, streitet. Berührungsängste kennt er nicht. Bei fast jeder Begegnung stellt sich der 44-Jährige einem Orkan aus Wut und Protest, darin zirkulieren die großen Fragen der Republik: Flüchtlinge, Innere Sicherheit, Klimawandel. Themen, die nicht nur Sachsen, sondern ganz Deutschland spalten - und Rechtspopulisten stärken. Im Osten ganz besonders. Laut Umfragen liegt die CDU nur knapp vor der AfD in Sachsen. Kretschmer hat sich vorgenommen, diese Spaltung zu überwinden. Wie fängt man die Leute wieder ein? Und gewinnt sie als Wähler für die CDU - eine Partei, die seit der Wende im Freistaat regiert und von der nicht wenige sagen, dass sie nicht unschuldig am Erstarken der AfD im Land ist.
In Görlitz geht es vor allem ums Klima. Ein Rentner will wissen: "Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer Koalition mit den Grünen?" Das mache ihm Sorgen. Kretschmers Antwort: Die CDU sei keine Verbotspartei. Nationale CO2 Steuer, Fleischsteuer, Fahrverbote? Nicht mit ihm. "Wir wollen keine Koalition mit den Grünen", sagt er. Und damit es alle verstanden haben: Sein nächstes Auto werde wieder ein Diesel sein.
Koalition mit "Verbotspartei" nicht gewollt
Keine Verbote, keine Steuern, keine Einschränkungen. Stattdessen: Wurst essen, Diesel fahren. Die Klimarettung solle freiwillig passieren, mithilfe technischer Innovation. Schnellere, modernere Züge zum Beispiel. Mehr Forschung bei Kühlanlagen. Diese Klimapolitik kommt gut an in Sachsen - nicht nur in der braunkohlereichen Oberlausitz. Im ganzen Bundesland fürchten sie die "Klimahysterie" der "Verbotspartei", so nennt auch Kretschmer selbst die Grünen. Klar, natürlich sei er für Klimaschutz, keine Frage. Er nennt das gern die "Bewahrung der Schöpfung". Und wenn er zum Bäumepflanzen aufruft, sagt er: "Lasst uns auch dieses grüne Gold im deutschen Wald vermehren."
Zu einem Wahlkampf-Event im Freitaler Freizeitzentrum ist Waldemar Hartmann gekommen. Der ehemalige ARD-Sportmoderator zieht bald nach Leipzig und unterstützt den CDU-Wahlkampf aus Sorge vor einer weiteren Ausbreitung der AfD. Jetzt steht er mit Kretschmer auf einem Beachvolleyballfeld und lobt den Ministerpräsidenten für seine Forderung nach einem Ende der Russlandsanktionen. "Ich hab zu meinem Weib gesagt: Deswegen geh’ ich für den in die Bütt, weil der nicht einknickt!"
Russland? Kretschmer sucht den Konflikt mit der Bundes-CDU
Seine Haltung zu Russland bringt Kretschmer in Sachsen viele Sympathiepunkte. "Ich würde mir wünschen, dass Sie sich stark dafür machen, dass wir mit Russland, nicht mit Herrn Putin, sondern mit dem Land, mit dem Volk mehr zu tun haben. Für unsere Zukunft", sagt ein Trompeter aus der Musikkapelle, die ihn in Borsdorf bei Leipzig empfängt. Kretschmer erzählt von seiner Reise nach Sankt Petersburg: "Und dann wird es hoffentlich auch einen Gegenbesuch geben, dass der russische Präsident nach Sachsen kommt - das wäre aus unserer Sicht eine große Freude."
Den Leuten gefällt, dass er damit den offenen Konflikt mit der CDU-Regierung in Berlin sucht. "Ich bin sehr froh, dass er auch eine eigene Meinung hat und nicht der Bundesregierung hinterher läuft", sagt ein Mann in Zwickau, der ihn deshalb wählen will. Während Vorsitzende anderer Parteien wie Christian Lindner für die FDP oder Annalena Baerbock für die Grünen von Plakaten lächeln und die sächsischen Spitzenkandidaten unterstützen, spielen Annegret Kramp-Karrenbauer und Angela Merkel hier kaum eine Rolle. Und das ist gewollt.
Mit der Bundes-CDU verknüpfen die Leute hier Angela Merkel, Flüchtlinge und den Sommer 2015. Davon will sich Kretschmer distanzieren. Er versucht es mit Zahlen und Fakten: "Es ist klar, dass sich 2015 so nicht wiederholen darf. Damals kamen 70.000 Flüchtlinge nach Sachsen, das hat uns überfordert. Heute sind wir im ersten Halbjahr aber nur noch bei 3.500. Es hat sich viel getan." Außerdem habe man sich das Thema Innere Sicherheit ganz dick auf die Fahnen geschrieben. 1.000 neue Polizisten verspricht er auf den Plakaten - ein Wahlversprechen wie eine Allzweckwaffe: in der Oberlausitz, wo Polen ganz nah ist, hilft sie gegen Grenzkriminalität. Im Erzgebirge, wo die AfD besonders stark ist, gegen die Ängste besorgter Väter um ihre Töchter.
Klare Abgrenzung von der AfD - ein Risiko?
Dabei sind die Probleme, von denen manche Menschen hier sprechen, in Sachsen eigentlich weit weg. Die Zahl der Straftaten im Freistaat Sachsen hat im Jahr 2018 den niedrigsten Stand der letzten zehn Jahre erreicht. Kein Schwimmbad musste hier wegen vermeintlicher Randale von Migranten Kontrollen einführen. Den tragischen Zwischenfall am Frankfurter Hauptbahnhof hätten auch 1.000 sächsische Polizisten nicht verhindert. Und rund um das Flüchtlingsheim in Stollberg-Niederdorf sei es "ganz ruhig", Probleme gebe es eigentlich nicht, räumt eine empörte Frau auf Kretschmers Nachfrage ein. Aber 100 Asylanten in dem kleinen Ort, findet sie, das sei doch ungerecht. Und deswegen wählten dort viele die AfD.
Der CDU-Spitzenkandidat will sie davon abhalten. Erklärt den Menschen unermüdlich, dass die AfD keine Alternative sei. Keine Konzepte habe. Erzählt ihnen von seinen Erfahrungen mit den Rechtspopulisten im Landtag: "Die AfD stellt sich im Landtag hin und sagt, dass ich ein Volksverräter sei, ein Deutschlandhasser. Es ist die Sprache, die wir bisher von der NPD kannten. Ich werde mit solchen Leuten nicht zusammenarbeiten." Klare Kante gegen die AfD von einem Mann, der im vergangenen Sommer öffentlich bezweifelte, dass es in Chemnitz Hetzjagden auf Flüchtlinge gegeben habe. Und der im Sommer 2015 den ungarischen Präsidenten Orban für seinen Zaunbau lobte. Vergangenheit.
Die klare Abgrenzung gegen die AfD ist auch ein Risiko, wenn er Wähler zurückgewinnen will. Denn nicht jeder Bürger versteht das. "Bloß weil die Partei ein bisschen in die rechte Richtung geht, kann man jetzt nicht sagen: Die Partei ist doof!", sagt ein 18-jähriger Erstwähler in Görlitz. "Das finde ich engstirnig." Und in der Zwickauer Fußgängerzone wird es bei dem Thema richtig laut: "Was hat die AfD Ihnen getan?", ruft ein empörter Mann. "Die nennen Zahlen und werden als Nazis beschimpft. In diesem Land sind wir auf die Straße gegangen für Demokratie. Mit Demokratie hat das nichts mehr zu tun hier!" Es beschleicht einen das Gefühl: Wenn Kretschmer hier Prozente holt, dann trotz seiner klaren Kante gegen die AfD. Und nicht deswegen.
Ein Kampf gegen Windmühlen
Kretschmer hört zu. Kretschmer redet. Kretschmer erklärt. Das kommt bei den Leuten an. Jahrelang habe sich niemand aus dem Führungspersonal der CDU hier blicken lassen, sagt eine Frau auf dem Marktplatz in Stollberg. Trotzdem hat es Kretschmer bei manchen schwer. "Er hat mir erklärt, wie das so ist im Landtag mit der AfD. Das wird schon stimmen, er ist ja nah dran", sagt ein Mann, für den sich der Ministerpräsident gerade 15 Minuten Zeit genommen hat. Hat er ihn überzeugt? Wählt er ihn? "Nein, ich bin eiserner AfD-Wähler. Weil ich das Land Sachsen so erhalten will, wie es ist. Dass die Flüchtlinge endlich abgeschoben werden." Ein anderer sagt: "Ich habe immer CDU gewählt. Aber ich bin nicht mehr bereit dazu. Ich werde belogen. Es ist einfach nicht die Wahrheit, die sie sagen. Es wird alles unter den Tisch gekehrt, die ganze Kriminalität der Zuwanderer!"
Bisweilen wirken Kretschmers Bemühungen wie ein Kampf gegen Windmühlen. Und gegen eine "Zerrwelt", in der viele Leute laut Kretschmer lebten: "Man muss diese ganze Diskussion ins Licht ziehen, raus aus dem Internet, raus aus dieser Filterblase, wo man sich gegenseitig selbst bestätigt." Da helfe nur das persönliche Gespräch. "Wir kommen schon wieder zusammen. Wir brauchen Zeit. Es geht nicht von heute auf morgen." Ihm ist klar, dass er bis zur Wahl nicht mehr alle erreichen kann. Dass sein Reden spät kommt. Vielleicht zu spät, um Ministerpräsident bleiben zu können.
* In einer früheren Version des Textes hieß es, Waldemar Hartmann habe sich "aus einer Bierlaune heraus als Wahlkämpfer angeboten". Herr Hartmann legt Wert darauf, von einer Agentur angefragt worden zu sein. Daraus habe sich auf Nachfrage der CDU eine weitere Zusammenarbeit entwickelt.