Demokratische Tragödie: Ausschluss von AfD-Kandidaten in Sachsen zweifelhaft
Vor wenigen Tagen hat der sächsische Landeswahlausschuss überraschend die Liste der AfD für die Landtagswahl am 1. September teilweise zurückgewiesen. Die nicht nachvollziehbare Entscheidung des Landeswahlausschusses bedient den Opfermythos der AfD und spielt denjenigen in dieser Partei in die Hände, die die demokratischen Institutionen ohnehin verachten.
Es hat Elemente eines Déjà-vu. Gerade einmal ein gutes Jahr ist es her, dass der sächsische Verfassungsgerichtshof sich mit der innerparteilichen Kandidatenaufstellung der AfD und ihren Auswirkungen auf die Zusammensetzung des sächsischen Landtags beschäftigen musste und dabei dem Landeswahlausschuss ein verheerendes Zeugnis ausstellte. Bei der letzten Landtagswahl vor fünf Jahren hatte dieser eine Landesliste der AfD zur Wahl zugelassen, obwohl bei der Kandidatenaufstellung die Grundsätze innerparteilicher Demokratie eklatant verletzt worden waren. Nur mit großem juristischen Begründungsaufwand konnte es das Gericht vermeiden, die sofortige Neuwahl des Landtags anzuordnen.
Vielleicht wollte der Ausschuss aus diesem Debakel lernen, als er vor wenigen Tagen nun überraschend die Liste der AfD für die Landtagswahl am 1. September teilweise zurückwies: Nur eine Teilliste mit 18 Kandidaten wurde zur Wahl zugelassen. Eine zweite Teilliste mit weiteren 43 Kandidaten schloss das Gremium hingegen vom weiteren Wahlverfahren aus. Die Auswirkungen dieser Entscheidung sind gravierend: Erzielt die AfD bei der Wahl ein Zweitstimmenergebnis, nach dem ihr mehr als 18 Sitze zustehen, bleiben die weiteren ihr nach dem Zweitstimmenanteil zustehenden Mandate unbesetzt. Der eigentlich 120 Sitze zählende Landtag würde sich dementsprechend verkleinern, die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse würden sich verschieben, falls die AfD nicht einen Großteil der sächsischen Direktmandate erringen sollte. Weitere Verzerrungen könnten sich durch Überhang- und Ausgleichsmandate ergeben. Glaubt man den aktuellen Umfragen, könnte der Effekt der Entscheidung des Lamdeswahlausschusses jedenfalls erheblich sein. Mit einem derzeit prognostizierten Zweitstimmenergebnis von 26 Prozent würde die AfD regulär etwa 32 Mandate erringen. Fielen 14 davon ersatzlos weg, würde sich die AfD-Fraktion auf fast die Hälfte der Größe reduzieren, die ihr bei proportionaler Mandatsverteilung zustünde. Auch für die anderen Parteien würde diese Verschiebung relevant, weil für die Regierungsmehrheit in diesem Fall nur noch 54 und nicht 61 Mandate gebraucht würden.
Schwerwiegende Konsequenzen für den Parteienwettbewerb
Eine Entscheidung mit derart schwerwiegenden Konsequenzen für den Parteienwettbewerb kann nur mit sehr validen rechtlichen Gründen getroffen werden. Umso mehr muss überraschen, wie schmallippig die Argumente tatsächlich ausfallen, mit denen die Zurückweisung des zweiten Teils der AfD-Liste nun öffentlich begründet wird. Für die Mitglieder des Wahlausschusses habe nicht sicher festgestanden, so die Landeswahlleiterin, dass es sich bei den Nominierungsparteitagen der AfD, die jeweils im Februar und März die beiden Teillisten beschlossen hatten, um eine einheitliche Versammlung gehandelt habe. Die entsprechenden Zweifel begründet sie vor allem damit, dass die beiden Parteitage von unterschiedlichen Versammlungsleitern geleitet wurden. Für den Laien mag diese Erklärung wie eine typische juristische Formalie klingen, eine förmliche Hürde, die für den Außenstehenden vielleicht nicht unbedingt verständlich ist, aber trotzdem nun einmal aus rechtlichen Gründen eingehalten werden muss. Tatsächlich lässt sich ein entsprechendes Verbot, eine Landesliste sukzessive auf zwei getrennten Parteitagen aufzustellen, dem geltenden Recht aber gar nicht entnehmen. Der einzige Anhaltspunkt dafür ist eine Regelung im sächsischen Wahlgesetz, die den Versammlungsleiter bei Einreichung des Vorschlags für den Wahlkreiskandidaten verpflichtet, gegenüber der Wahlbehörde an Eides statt zu versichern, dass bei der Kandidatenaufstellung die gesetzlichen Vorschriften eingehalten wurden. Auf die Einreichung von Landeslisten ist diese Vorschrift entsprechend anwendbar. Nun ist es schon juristisch nicht zwingend, aus dieser Formulierung schließen zu wollen, dass der Versammlungsleiter hier tatsächlich nur eine einzige Person sein kann und die Anforderungen nicht auch durch Einreichung von Erklärungen zweier Versammlungsleiter erfüllt werden können. Vor allem ist die Vorschrift, die von dem Versammlungsleiter spricht, eben auf die Aufstellung von Einzelbewerbern in Wahlkreisen zugeschnitten und damit auf Versammlungen, die schon aus praktischen Gründen nicht in mehrere Sitzungen aufgeteilt werden können, weil nur über eine Person zu entscheiden ist. Auf die Aufstellung von Landeslisten ist diese Vorschrift deshalb auch nicht unmittelbar, sondern nur entsprechend anwendbar, das heißt unter Berücksichtigung der Besonderheiten der andersartigen Kandidatenaufstellung bei einer Liste mit vielen Plätzen. Das praktische Bedürfnis, eine solche Versammlung auch in mehreren zeitlichen Abschnitten durchzuführen, gehört aber zweifellos zu diesen Besonderheiten.
Es ist auch schlicht kein sachlicher Grund erkennbar, warum die Zulassung des zweiten Teils der AfD-Landesliste allein von der spitzfindigen Frage abhängen sollte, ob der Parteitag unterbrochen und fünf Wochen später fortgesetzt oder abgeschlossen und fünf Wochen später die Listenaufstellung auf einem neuen Parteitag wiederaufgenommen wurde. Der wesentliche erkennbare Unterschied zwischen beiden Szenarien besteht nämlich tatsächlich nur in der Neuwahl eines Versammlungsleiters für die zweite Versammlung. Warum aber sollte allein die Wahl eines neuen Versammlungsleiters zur Ungültigkeit der restlichen Listenaufstellung führen? Und müsste dies dann nach der Ansicht des Landeswahlausschusses etwa auch gelten, wenn der Versammlungsleiter aus gesundheitlichen Gründen oder bei sonstiger Verhinderung im Lauf der Sitzung ausgetauscht werden muss? Es ist schwer vorstellbar, was für eine solche Argumentation sprechen sollte.
Verminderte Chancengleichheit der Bewerber nicht erkennbar
Ebenso wenig leuchtet ein, dass der Landeswahlausschuss seine Entscheidung offenbar auch darauf gestützt hat, dass der zweite Parteitag die Kandidaten ab Listenplatz 31 aus Zeitgründen durch Blockwahl nominiert hat. Soweit dies unzulässig gewesen wäre, hätte der Ausschuss ohnehin jedenfalls die ersten 30 Plätze zulassen müssen. Tatsächlich sind aber auch gegen den Übergang zur Blockwahl keine rechtlichen Einwände ersichtlich. Die Blockwahl ist als solche durchaus zulässig. Dass der Wechsel von der Einzelwahl zur Blockwahl hier die Chancengleichheit der Bewerber vermindert hätte, ist nicht erkennbar und ergibt sich jedenfalls nicht einfach schon aus der bloßen Tatsache des Wechsels des Wahlverfahrens für die hinteren Listenplätze. Nicht jede tatsächliche Ungleichheit im Wahlverlauf stellt auch eine Verletzung der Chancengleichheit dar. Sonst könnte man etwa mit gleicher Argumentation behaupten, dass auch der jeweilige Wahlgang zu einer für die Aufmerksamkeit der Delegierten günstigeren oder ungünstigeren Uhrzeit die Rechte der Kandidaten verletze.
Entscheidung bedient Opfermythos der AfD
Zweimal hintereinander hat der Landeswahlausschuss in Sachsen also in Bezug auf die AfD Regeln erdacht, die dem geltenden Wahlrecht fremd sind - im ersten Fall zugunsten der AfD, im zweiten Fall nun zu ihren Lasten. Anlass für Häme gegenüber der AfD oder den Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit bietet dieses Verhalten gleichwohl nicht. Denn die Zurückweisung des zweiten Teils der AfD-Liste beschädigt grundlegende demokratische Standards. Zum einen gibt die Entscheidung des Landeswahlausschusses all den Verschwörungstheorien Nahrung, welche die AfD ohnehin über die sogenannten "Systemparteien" und vermeintlich korrumpierte staatliche Institutionen verbreitet. Wer für derartige Propaganda anfällig ist, wird sich nun allzu sehr bestätigt fühlen. Zum anderen droht aber auch eine ernsthafte Destabilisierung der Institution des Landtags in Sachsen. Denn gegen die Entscheidung des Landeswahlausschusses sind vor der Wahl alle rechtlichen Schritte ausgeschlossen. Die einzige Kontrollmöglichkeit ist die Wahlprüfungsbeschwerde, die erst nach der Wahl eingereicht werden kann und auch zunächst nicht bei Gericht, sondern beim Landtag erhoben wird. Schon im Fall der AfD-Listenaufstellung bei der letzten Wahl hat der Landtag dieses Verfahren fast drei Jahre lang verschleppt, so dass die nachfolgende Kontrolle durch den sächsischen Verfassungsgerichtshof erst abgeschlossen werden konnte, als die Wahlperiode schon fast vorbei war. Das Gericht stellte dann zwar fest, dass ein schwerwiegender Fehler im Wahlprozess vorgelegen hatte. Es ordnete aber keine Neuwahl an, weil der Fehler nur ein einzelnes Mandat und nicht die politischen Mehrheitsverhältnisse im Landtag berührt hatte und es die Stabilität des Landtags höher gewichtete als die Korrektur des Rechtsverstoßes.
Eine solche jedenfalls auch politisch motivierte Lösung stünde dem Verfassungsgerichtshof bei der in dieser Sache zu erwartenden Entscheidung nicht zur Verfügung. Er müsste vielmehr entweder den Rechtsverstoß des Landeswahlausschusses bagatellisieren, um das Ergebnis der Landtagswahl aufrecht erhalten zu können, oder aber tatsächlich eine Neuwahl des Landtags anordnen und damit in gewisser Weise allen zuvor getroffenen Entscheidungen nachträglich die Legitimität entziehen. Der Schaden für die Demokratie wird in beiden Fällen beträchtlich sein. Die nicht nachvollziehbare Entscheidung des Landeswahlausschusses bedient den Opfermythos der AfD und spielt denjenigen in dieser Partei in die Hände, die die demokratischen Institutionen ohnehin verachten.
Der Text erschien zuerst im Verfassungsblog.