Schach: Keymer hofft in Weissenhaus gegen Carlsen auf den großen Coup
Nachdem der Streit mit dem Weltschachverband FIDE vorerst beigelegt ist, schreibt das Freestyle-Chess-Turnier in Weissenhaus an der Ostsee endlich sportliche Schlagzeilen. Der Mainzer Vincent Keymer spielt groß auf und hat gute Chancen, endlich einmal gegen Ausnahmespieler Magnus Carlsen zu gewinnen.
Nach seiner Niederlage schüttelte Magnus Carlsen kurz den Kopf, fluchte vor sich hin - und regte sich auf seine ganz eigene Art und Weise ab, in dem er zur Ablenkung eine bekannte Onlineturnierserie spielte. Immerhin da gewann er. Denn bei "seinem" Freestyle-Turnier auf Gut Weissenhaus droht dem Norweger im Halbfinale das Aus. Ausgerechnet hier, wo die Startformation der Figuren ausgelost und mit einer langen Bedenkzeit gespielt wird - so wie es sich der 34-Jährige schon lange gewünscht hatte.
Immer wieder waren Carlsen und Deutschlands Toptalent Vincent Keymer in den vergangenen Jahren aufeinandergetroffen. Immer wieder stand Keymer kurz vor einem Sieg, immer wieder zog Carlsen irgendwie den Kopf noch aus der Schlinge. Heute, im zweiten Teil des Halbfinals, muss Carlsen mit den weißen Figuren gewinnen, um in die Verlängerung zu kommen.
Keymer in Topform
Aber die Chancen stehen gut, dass Keymer, inzwischen 20 Jahre alt und seit Jahren als größtes deutsches Schachtalent seit Ewigkeiten gepriesen, es dieses Mal schaffen könnte. In der Vorrunde noch mit einigen Problemen, ist er nun in Topform. Sein Vorteil: Er kann gut rechnen und damit Züge im Voraus planen, hat aber auch eine gute Intuition. Mit der Freestyle-Variante kommt der Mainzer damit besser klar als etwa der Inder Dommaraju Gukesh, seit wenigen Monaten neuer Weltmeister im klassischen Schach.
Weltmeister Gukesh sang- und klanglos ausgeschieden
Auch Gukesh ist ein starker Rechner, kann viele Stellungen gut kalkulieren. Ihm hilft es, sich im klassischen Schach auf bekannte Eröffnungen langfristig (auch mit Hilfe von Schachcomputern) vorbereiten zu können, als Angreifer wie als Verteidiger. Diesen Vorteil gibt es beim Freestyle Chess nicht. Sein Viertelfinale verlor der neue Weltmeister sang- und klanglos. Für ihn geht es an der Ostsee nun maximal noch um Platz fünf.
Im klassischen Schach sind die Figuren anfangs extra harmonisch aufgestellt. Das hilft jedem, Anfängern wie Profis, erstmal sicher zu stehen und die Figuren behutsam ins Spiel einzubinden. Beim Freestyle hingegen wird die Startformation der Figuren ausgelost. Da kommt es schon mal vor, dass nach nur zwei Zügen ein Bauer komplett ungedeckt ist oder ein Turm direkt angegriffen werden kann.
Spieler wie Carlsen oder Hikaru Nakamura (USA), seit Jahrzehnten Schachweltspitze, mögen es, sich im Freestyle auf neue, oft zunächst unharmonische Positionen am Brett einzustellen - und dann alle Figuren zu aktivieren und mit ihnen harmonisch anzugreifen. Das ist nämlich, ähnlich wie im klassischen Schach, der Weg zum Sieg.
Erster großer Zahltag für Keymer
Keymer, 2022 ja auch Vize-Weltmeister im Schnellschach, wirkt in diesen Tagen wie der vielseitigste der immer stärkeren Schach-Youngster. Für ihn ist die neue Turnierserie auch finanziell ein Segen. Jahrelang hatte er erfolglos Sponsoren gesucht, in Interviews von 60.000 Euro gesprochen, die er pro Saison als Profispieler brauche. Die hat er nun in Weissenhaus schon sicher, selbst wenn er doch nur Vierter wird.
Insgesamt beträgt das Preisgeld 750.000 Dollar, 200.000 davon für den Sieger. Das Turnier an der Ostsee ist der Auftakt einer weltweiten Turnierserie, bei der insgesamt vier Millionen US-Dollar ausgeschüttet werden. Das sind neue Dimensionen im Schachsport.
Neue Turnierserie setzt auf Schach-Streamer
Unklar bleibt, wie gut sich die Freestyle-Variante monetarisieren lässt. Die Spiele sind spektakulär, viele Stellungen neu - aber selbst Großmeistern fällt es schwer, Freestyle-Partien zu durchschauen und erklären, erst recht für Schachlaien. Transparente Zahlen, wie viele Fans weltweit zuschauen, gibt es nicht. Um ein neues Publikum zu gewinnen, setzt Freestyle-Chef und Unternehmer Jan Henric Buettner in diesem Jahr deshalb noch stärker auf die Schach-Streamer.
Levy Rozman alias "GothamChess" ist Teil des Kommentaren-Teams - er hat auf Youtube fast sechs Millionen Abonnenten. Auch die Botez-Schwestern oder Anna Cramling sind vor Ort, haben eigene Studios. Auf einen Pressetag mit Interviewmöglichkeiten für die klassischen Medien verzichteten die Freestyle-Organisatoren in diesem Jahr, um alle Inhalte über ihre eigenen Kanäle zu verbreiten.
Streit zwischen Buettner und FIDE (vorerst) beigelegt
Mit Derrick Rose hat nun auch ein bekannter NBA-Spieler in Freestyle investiert. Er möchte ein Event auf die Beine stellen, wenn die Turnierserie im Sommer in Las Vegas vorbeischaut. Unternehmer Buettner glaubt, dass aus seiner Idee eine "Milliardenfirma" wird. Der Konflikt mit dem Weltschachverband FIDE brachte ihm und seinem Turnier viel Aufmerksamkeit. Monatelang hatten sich beide Seiten darüber gestritten, ob ein Freestyle-Weltmeister gekürt wird.
Am vergangenen Sonntag setzten sich die Spieler und Organisatoren zusammen und beschlossen einstimmig, zumindest in diesem Jahr auf einen Weltmeister-Titel zu verzichten. Stattdessen soll nun am Ende des Jahres ein "Freestyle Chess Champion" gekürt werden. Eine pragmatische Lösung, für die es keine monatelange Schlammschlacht mit der FIDE gebraucht hätte. Umso schöner, dass es nun um sportliche Schlagzeilen geht. Erst recht, wenn tatsächlich ein Deutscher an der Ostsee gewinnen sollte.
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