Michael Polywka 1967 im Trikot von Eintracht Braunschweig. © IMAGO/kicker/metelmann Foto: Metelmann

Von Polywka bis Kruse: Fluchtpunkt Bundesliga

Stand: 12.08.2023 11:10 Uhr

"Willst Du in den Westen türmen, musst Du für Dynamo stürmen" - so spotteten einst die ostdeutschen Fußballfans. Denn die Serien-Meisterschaften von Dynamo Dresden und vor allem des BFC Dynamo aus Berlin gingen einher mit internationalen Auftritten im Europapokal und verschafften den Spielern so die Gelegenheit zur "Republikflucht", wie es im offiziellen DDR-Jargon hieß.

von Johannes Freytag

Aber auch in anderen Clubs gab es abwanderungswillige Spieler. Schon die Gründung der Bundesliga in der Bundesrepublik 1963 bedeutete einen großer Anreiz für ambitionierte Kicker aus dem Osten. Einer der ersten Ost-Fußballer, die es in die westdeutsche Eliteliga drängte, war Michael Polywka.

Michael Polywka: Versteckspiel auf Helgoland

1966 spielte der gebürtige Schlesier bei Carl Zeiss Jena im offensiven Mittelfeld. Die Intertoto-Partie der Thüringer bei Eintracht Braunschweig wollte er zur Flucht nutzen und anschließend für die "Löwen" spielen. Braunschweigs Trainer Helmuth Johannsen überredete den 22-Jährigen aber, doch noch mit Jena in die DDR zurückzukehren, um diplomatischen Verwicklungen vor dem Rückspiel aus dem Weg zu gehen.

Der neue Plan: Polywka sollte nach Jenas Intertoto-Partie am 25. Juni in Stockholm flüchten. Die Flucht gelang, der Spieler reiste mit Hilfe der (west-)deutschen Botschaft aus Schweden aus und kam nach Hamburg. Johannsen versteckte seinen "Neuzugang" wochenlang auf der Nordseeinsel Helgoland - wegen des anstehenden Rückspiels der Braunschweiger in Jena musste alles noch geheim bleiben. Erst nach der Partie am 23. Juli stellten die Verantwortlichen den früheren DDR-Bürger als Neuzugang vor.

Sperre ausgerechnet in Braunschweigs Meisterjahr

Weil der DDR-Fußballverband aber die Freigabe verweigerte, wurde Polywka gesperrt. Die ursprünglich lebenslange Strafe wurde auf zwölf Monate reduziert. Eine Saison lang trainierte er in Braunschweig nur mit und musste zusehen, wie die Niedersachsen ohne ihn Meister wurden. "Diese Sperre hat ihm nicht gut getan. Er hatte dadurch zu viel Freizeit", erinnerte sich der frühere Eintracht-Torwart Horst Wolter und betonte: "Michael war sehr athletisch und hatte einen guten Schuss, als er kam. Leider hat er sich sportlich nicht weiterentwickelt."

Polywka absolvierte 91 Bundesligaspiele für Braunschweig, in denen er neun Tore erzielte. 1971 wechselte er zu Hannover 96, wo er acht Mal zum Einsatz kam. Später spielte er noch bei Admira Wien in Österreich. Am 12. Januar 2009 starb Polywka im Alter von 65 Jahren.

Axel Kruse: Von Rostock nach Berlin

Viele weitere Spieler folgten dem Fluchtbeispiel Polywka: Jürgen Pahl, Norbert Nachtweih, Lutz Eigendorf oder Falko Götz gehörten zu den bekanntesten.

Axel Kruse setzt sich 1990 gegen einen Dortmunder Spieler durch. © imago Foto: imago
Axel Kruse fasst nach seiner Flucht in der Bundesliga schnell Fuß. Hier setzt er sich für Hertha BSC gegen einen Dortmunder Spieler durch.

Der letzte DDR-Spieler, der "Republikflucht" beging, war Axel Kruse. Der gebürtige Wolgaster wurde über das Jugendinternat von Hansa Rostock an die erste Mannschaft der Mecklenburger herangeführt. Mit 18 debütierte er zur Saison 1985/86 in der DDR-Oberliga.

Am 8. Juli 1989 nutzte er ein Intertotospiel Hansas in Kopenhagen zur Flucht in den Westen. Er setzte sich bei einem Spaziergang mit Mannschaftskollegen ("wir rauchten heimlich eine Zigarette im Park") ab. Ein Helfer brachte ihn per Taxi nach Rödbyhavn, von dort aus ging es per Fähre nach Puttgarden auf Fehmarn. Nur einen Tag später flog Kruse nach Westberlin, weil er unbedingt bei Hertha BSC spielen wollte.

Wütend über den Mauerfall

Den Mauerfall ein Vierteljahr später am 9. November hätte Kruse beinahe in seiner Wohnung am Ku'damm verschlafen, wie er in einem "Spiegel"-Interview berichtete. Seine erste Reaktion war denn auch eher ungewöhnlich: "Ich war wütend. Ich dachte: Jetzt dürfen die alle ganz gemütlich in den Westen und du hast alles dafür riskieren müssen, hast in deinen Stasi-Akten sogar noch einen Haftbefehl liegen! In der DDR wurde ich von der Polizei gesucht. Wäre ich erwischt worden, hätte man mich zwei, drei Jahre in den Knast gesteckt."

Tatsächlich wechselte schon im Januar 1990 in Andreas Thom der erste Spieler aus der DDR-Oberliga ganz legal und für eine Ablösesumme von 2,5 Millionen D-Mark vom BFC Dynamo aus Berlin zu Bayer Leverkusen.

Weitere Informationen
Lutz Eigendorf © picture-alliance / Sven Simon | SVEN SIMON

Lutz Eigendorf: Tod eines "Republikflüchtlings"

1983 kam der DDR-Flüchtling und Braunschweiger Fußballprofi alkoholisiert bei einem Autounfall zu Tode. Experten glauben an einen Mord der Stasi. mehr

Dieses Thema im Programm:

Sport aktuell | 23.08.2023 | 11:17 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

50 Jahre Bundesliga

Eintracht Braunschweig

DDR

Mehr Fußball-Meldungen

Co-Trainer Dirk Flock und Trainer Dirk Brinkmann (v.l.) vom Fußball-Drittligsten FC Hansa Rostock © IMAGO / Andy Bünning

Hansa Rostock: Brinkmann-Heimdebüt gegen die alte Liebe Bielefeld

Der neue Coach des Rostocker Fußball-Drittligisten feiert am Sonnabend gegen seinen Ex-Club seinen Einstand im Ostseestadion. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?