Teresa Enke schlägt Alarm: "Viel zu wenige Therapieplätze"
Teresa Enke hat nach dem Suizid ihres an Depressionen erkrankten Mannes mit der Robert-Enke-Stiftung viel erreicht. Die Situation für Hilfesuchende ist jedoch prekär. Es gibt viel zu wenige Therapieplätze. Privat ist sie wieder glücklich.
Der Schock saß tief, die Betroffenheit war riesengroß. Als Robert Enke, der Torhüter der Fußball-Nationalmannschaft, am 10. November 2009 an einem Bahnübergang in Neustadt am Rübenberge-Eilvese von einem Zug überrollt wurde, hielt das Land den Atem an. Dass der bekannte Sportler schwerkrank war, an Depressionen litt und am Ende einer jahrelangen, heimlichen Leidenszeit Suizid begangen hat, wussten zu dem Zeitpunkt nur ganz wenige in seinem privaten Umfeld.
Was hat Robert Enkes Tod verändert?
"Er dachte damals wirklich, er sei der Einzige, der diese Krankheit hat", erzählt Teresa Enke. Sie hat nach dem Tod ihres Mannes eine Stiftung gegründet und sich dem Ziel verschrieben, über die Krankheit Depression aufzuklären, "damit die Menschen, die psychisch erkrankt sind, toleriert und nicht stigmatisiert werden".
Nach 15 Jahren sei das mittlerweile in der Gesellschaft angekommen. "Hätte er die Entwicklung mitbekommen dann - das sag' ich - hätte er sich auch nicht suizidiert", so Enke im ARD Podcast. Ihr damaliger Mann habe sich aber als Außenseiter gefühlt, vielleicht sogar geächtet, wenn er sich denn offenbart hätte. Seine zerstörerischen Sprüche wie "Der Rob mit dem kaputten Kopp" oder "Keiner ist so kaputt im Kopf wie ich" habe er nicht nur so dahingesagt.
Depressionen im Sport - viele gehen heute offen damit um
Inzwischen gibt es viele prominente Sportler, die ganz offen mit ihrer psychischen Erkrankung umgehen. Auch Weltstars des Sports wie Rekord-Olympiasieger Michael Phelps, Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton oder auch US-Turnerin Simone Biles. "Das hilft uns total", freut sich Teresa Enke. "Dadurch verlieren Menschen in der 'normalen' Bevölkerung ein bisschen die Angst. Wenn ein supererfolgreicher Manager oder auch Sportler, finanziell abgesichert und vielleicht gutaussehend, Depressionen oder psychische Probleme hat, dann kann es mich ja auch treffen; dann kann ich auch mein Umfeld oder meinen Arbeitgeber darüber informieren."
Aber das ist nur die eine Seite. Extrem viel schlechter geworden sei die Situation für Patienten, die dringend Hilfe benötigen. Teresa Enke schlägt Alarm: "Es gibt einfach viel zu wenige Therapieplätze für Menschen mit Depression." Fortschritte? Fehlanzeige. "Es ist ganz, ganz schlimm. Noch vor fünf Jahren konnten wir mit breiter Brust sagen: Als Stiftung können wir jedem innerhalb einer Woche einen Therapieplatz besorgen. Das gelingt uns nicht mehr."
Suche nach Therapieplatz "unglaublich schwer"
Über die prekäre Lage in der ambulanten und stationären Therapie zeichnet sie ein düsteres Szenario. Alle seien überlastet. "Ich sage: Entweder ist man nach sechs Monaten oder einem Jahr wieder gesund, oder man ist tot und hat sich suizidiert." Mag sein, dass dies übertrieben klingt; aber wer über Missstände verzweifelt ist und etwas verändern will, muss wohl zugespitzt formulieren, um Gehör zu finden.
Tatsächlich ist es insbesondere unter Experten unbestritten, dass der Stauts quo mindestens unbefriedigend ist. Deshalb lautet der Ratschlag, dass wer in Lebensgefahr ist oder einen suizidgefährdeten Angehörigen hat, keinesfalls warten, sondern den Notarzt alarmieren oder in eine Klinik fahren sollte.
Die Psychologin Brit Wilsdorf weiß um die angespannte Situation aus der Perspektive derjenigen, die Patienten regelmäßig abweisen müssen. "Ich bekomme pro Woche zehn Anrufe, ob ich einen Therapieplatz habe", sagt sie. Und das ist nicht nur in ihrer Praxis in Berlin so. Die Prävalenz, also die Anzahl der Krankheitsfälle in einem bestimmten Zeitraum, sei gravierend gestiegen, die Pandemie habe die Situation zusätzlich forciert. "Es ist unglaublich schwer, überhaupt an einen Therapieplatz zu kommen. Zumal als Kassenpatient", so Wilsdorf, die in der Hauptstadt auch am Olympiastützpunkt mit Leistungs- und Spitzensportlern arbeitet.
Depressionen werden häufiger erkannt
Statistische Daten zeigen, dass nicht unbedingt mehr Menschen an einer Depression erkranken, sondern die Krankheit inzwischen sehr viel häufiger erkannt wird, so die Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Während und nach der Pandemie übrigens vermehrt bei jungen Menschen. Das Ringen um eine adäquate Behandlung, einen freien Therapieplatz, so schildert es Brit Wilsdorf, kann gerade für depressive Menschen mit Symptomen wie Antriebslosigkeit, Energieverlust, Ängsten, sozialem Rückzug sowie Selbstwertproblemen und Konzentrationsstörungen ein wahres Martyrium darstellen.
Wilsdorf: Therapieplatz = Hälfte des Genesungswegs
"Wenn die Leute es geschafft haben, einen Therapieplatz zu bekommen, ist die Hälfte des Genesungswegs geschafft", so Wilsdorf. Klingt zynisch? Ist aber wohl nahe an der Realität, zumal von den rund 50.000 Psychotherapeuten in Deutschland nur zwei Drittel eine Zulassung bekommen, um gesetzlich Versicherte behandeln zu dürfen. "Hoffentlich bekommt die Politik das bald in den Griff", sagt Teresa Enke.
Aber hat sich speziell im Sport etwas im Umgang mit Depressionen geändert? Werden Athleten 15 Jahre nach dem Tod von Robert Enke inzwischen besser und vor allem flächendeckend psychologisch betreut? Das Internationale Olympische Komitee hat die Relevanz einer adäquaten mentalen Unterstützung erkannt und bei den Spielen in Paris im Sommer Psychologen auch im Olympischen Dorf zugelassen. Brit Wilsdorf war mit drei Kollegen verantwortlich für das deutsche Team. "Es ist eine hohe mediale Aufmerksamkeit auch für Sportarten, die das sonst nicht gewohnt sind. Unglaublich viel psychischer Druck", sagt sie.
Psychotherapie - für manche Trainer ein Angstthema
Psychische Probleme oder auch mentale Überforderungen würden meist nicht mehr aus Scham und mitunter falsch verstandener Professionalität unter den Tisch gekehrt. Dabei gebe es aber immer noch erhebliche Unterschiede, wie Wilsdorf auch von Kollegen regelmäßig hört. "Für junge Sportler gehört die mentale Unterstützung mittlerweile wie selbstverständlich dazu. Bei älteren - insbesondere Trainern im Leistungssport - nicht unbedingt." Viel zu viele gebe es noch, die an der Einstellung festhalten würden: "Nur die Harten kommen in den Garten."
Ist es Ignoranz, fehlendes Wissen oder einfach nur ein Fremdeln mit dem Unbekannten? Manchmal merke sie schon, dass es für den ein oder anderen erstmal ein Angstthema ist, "dass Psychotherapie oder psychopharmakologische Unterstützung auch helfen kann", so Wilsdorf, die immer wieder merkt, wie ambivalent die Einstellung bei Trainern sein kann: "Ich kenne sowohl welche, die sehr unterstützend sind und sagen: 'Okay, ohne Gesundheit werden wir nicht langfristige Leistungen erreichen.' Aber wiederum auch andere, die sagen: 'Okay, was wir nicht sehen, das gibt es auch nicht.'"
Viel Luft nach oben im Profifußball
Bei der Trainerausbildung im Fußball spielt das Thema Psychologie inzwischen eine größere Rolle als vor dem Tod von Robert Enke. Zudem müssen alle Erst- und Zweitligisten in ihren Nachwuchsleistungszentren einen Psychologen haben; die Profis jedoch nicht. In der vergangenen Saison hatten nur fünf der 36 Erst- und Zweitligisten ein dauerhaftes therapeutisches Angebot. Elf Clubs stellten wenigstens eine teilweise Betreuung bereit. Zahlen, die die Spielergewerkschaft VDV ermittelt hat. Es gibt viel Luft nach oben.
DFB-Präsident Neuendorf: "Wir sind hier alle gefordert“
Das sieht DFB-Präsident Bernd Neuendorf wohl ähnlich. "Es bleibt einiges zu tun", sagte er jüngst bei einer Gala der Robert-Enke-Stiftung in Hannover. "Wir müssen die Sportlerinnen und Sportler noch besser vor negativen Einflüssen auf ihre psychische Gesundheit schützen." Was er vor allem meinte, ist die zunehmende Verrohung in den sogenannten sozialen Medien. "Die Anzahl derjenigen, die angesichts von Mobbing im Netz unter Depressionen und Suizidgedanken leiden, ist nach Angaben von Experten hoch", so Neuendorf, der nicht nur den Sport, sondern die Gesellschaft schlechthin auffordert, dagegen aufzustehen: "Wir sind hier alle gefordert."
Teresa Enke: Dankbar und glücklich
Teresa Enke ist nicht nur für Neuendorf ein Vorbild. 15 Jahre nach dem Tod ihres Mannes ist die von ihr gegründete Stiftung längst zu einer Institution geworden. Ihr Wort, ihre Mahnungen haben Gewicht.
Eine ebenso schöne wie wichtige Nachricht ist: Teresa Enke geht es gut, sie ist wieder verheiratet, hat noch ein Kind bekommen - und ist glücklich. Natürlich wird "Robbie", wie sie Robert Enke liebevoll nannte, immer ein Teil von ihr sein. Dass das so ist und "so funktioniert, dafür bin ich dankbar", sagt sie und spricht im ARD Podcast offen über Toleranz und Respekt in ihrer Familie: "Dass man über ihn spricht, und dass ich über ihn sprechen darf - das ist nicht selbstverständlich." Der große Schatten mache es nicht einfach, "für keinen Mann an meiner Seite".
Lara und "Robbie" - Gedanken an die schönen Momente
Es sei nicht mehr so, dass sie jeden Tag an Robbie denke. Oder auch an die mit zwei Jahren an einem Herzfehler gestorbene Tochter Lara. Natürlich gibt es aber Momente, in denen sie die Erinnerungen einholen, unauslöschliche Gedanken, in denen die für immer geliebten Menschen ganz nah sind.
"Wenn ich an bestimmten Orten bin oder wenn man Fußball sieht", sagt sie mit einem Hauch von Wehmut: "Mittlerweile sind es, Gott sei Dank, nur die schönen Momente und die lustigen, bei denen ich schmunzeln muss und mir vorstelle: Wie hätte er jetzt wohl reagiert? Oder was hätte er jetzt wohl gesagt?" Es sind Augenblicke, die sie sehr genieße, sagt Teresa Enke. Dann stelle sie sich vor, "dass beide oben im Himmel sitzen, zusammen sind und runtergucken".
Den Todestag von Robert Enke würde sie am liebsten vergessen, zumindest aber verdrängen. Sie überlegt einen Moment. "Nein", sagt sie schließlich mit Nachdruck, "den versuche ich zu ignorieren."