Sébastien Thill: Bei Hansa Rostock aussortiert, mit Luxemburg zur EM?
Luxemburg war jahrzehntelang in den Qualifikationen zu Welt- und Europameisterschaften Punktelieferant. Jetzt aber muckt der frühere Fußball-"Zwerg" auf. Zwei Erfolge ist das Großherzogtum noch von der EM in Deutschland entfernt. Ein ganzes Land träumt von der Sensation - und drückt in den Play-offs unter anderem einem Ex-Hansa-Rostock-Profi die Daumen: Sébastien Thill.
Das Gefühl eines Sieges, die Spieler von Stal Rzeszow kannten es schon gar nicht mehr. Fünf Mal in Folge hatte der Club aus Polens Zweiter Liga verloren, bevor am vergangenen Sonnabend ein 2:1-Erfolg gegen Motor Lublin gelang. Nach dem Schlusspfiff herrscht Partystimmung im Stadion Miejski "Stal Rzeszów" w Rzeszowie, in dem 3.895 Zuschauer die Partie verfolgen. Während der auch in deutschen Arenen bestens bekannte Ohrwurm "Freed from Desire" durchs weite Rund dröhnt, werden die Kicker vom Anhang frenetisch gefeiert. Auch Thill nimmt das Bad in der Menge.
Von Rostock nach Rzeszow
Der 30-Jährige ist im September des vergangenen Jahres nach Rzeszow gewechselt. Zuvor war der Offensivmann beim FC Hansa Rostock aussortiert worden. Beim Club aus dem Karpatenvorland ist der Luxemburger Hoffnungs- und Leistungsträger. Wie hoch sein Ansehen dort ist, zeigt sich auch, als die Spieler abgekämpft in der Kabine Platz genommen haben. Denn die ersten Worte von Coach Marek Zub gelten ihm.
"'Seba', viel Glück für die nächste Woche und das Nationalteam. Wir unterstützen dich", sagt der Pole in englischer Sprache. Dafür gibt es Beifall von Thills Mannschaftskameraden, die ihm alle die Daumen drücken, mit seinem Heimatland erstmals das Ticket für ein großes Turnier zu lösen.
Luxemburg muss Hürde Georgien meistern
Luxemburg und die Qualifikation für eine WM oder EM - das war jahrzehntelang ungefähr so wahrscheinlich wie der berühmte Sechser im Lotto - plus Zusatzzahl. Das einzig einigermaßen furchteinflößende Merkmal der Auswahlmannschaft aus dem Großherzogtum war der Spitzname. "Rote Löwen" nennen sie sich - und waren so lange doch nur leichte Beute für die Konkurrenz. Dann aber ließ das Team von Langzeit-Trainer Luc Holtz (seit 2010 im Amt) in der EM-Qualifikation aufhorchen. Mit 17 Punkten wurde Luxemburg in der Gruppe J Dritter hinter Portugal und der Slowakei - aber vor Island und Bosnien und Herzegowina.
Damit lösten Thill und Co. zwar noch nicht das Ticket für das Turnier im Sommer in Deutschland. Aber über die Play-offs kann der Außenseiter die Sensation nun perfekt machen. Voraussetzung dafür: Ein Sieg heute Abend (18 Uhr) in Tiflis gegen Gastgeber Georgien im Halbfinale und dann ein Erfolg im Endspiel am kommenden Dienstag vor heimischer Kulisse gegen den Sieger aus der Partie Griechenland - Kasachstan.
"Werden alles geben, um weiterzukommen"
"Es wird ein schwieriges Spiel, zumal es auswärts ist. Das wird ein großer Fight", sagte Thill im Podcast "Küstengelaber" mit Blick auf das Semifinale. 55.000 Zuschauer werden im Boris Paichadze Erovnuli Stadioni erwartet. Die meisten davon dürften die Gastgeber anfeuern, für die eine EM-Qualifikation ebenfalls ein Fußball-Wunder wäre.
Luxemburg wird also in einem Hexenkessel bestehen müssen, um seinem Fußball-Märchen ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. "Wir werden alles für unsere Land geben, um weiterzukommen", kündigte Thill an: "Denn du gehst ja nicht in die Spiele, um sie zu verlieren."
22 Legionäre im 23-köpfigen Luxemburg-Kader
Der 30-Jährige ist einer von 22 im Ausland beschäftigten Profis des 23-köpfigen Aufgebots. Nur Ersatzkeeper Ralph Schon spielt noch in der heimischen Liga Luxemburgs - und arbeitet hauptberuflich als Lehrer. Dass die Fußballer aus dem nur rund 660.000 Einwohner zählenden Land mit den Jahren ein Export-Schlager geworden sind, ist für Thill einer der Gründe des Aufschwungs. Hinzu kommt die große mannschaftliche Geschlossenheit.
"Wir kennen uns fast alle aus Luxemburg, sind miteinander aufgewachsen. Mittlerweile spielen alle im Ausland. Als ich angefangen habe, waren wir fünf Profis, der Rest waren alles Amateure", erklärte der frühere Hansa-Akteur.
Thill blickt nicht zurück im Zorn auf Hansa Rostock
Thill feierte 2015 sein Nationalmannschaftsdebüt. Seinerzeit stand er noch beim FC Progrès Niederkorn in Luxemburg unter Vertrag. Fünf Jahre später wagte der Offensivmann den Wechsel nach Russland zu PFK Tambov. Später lief er für den FC Sheriff Tiraspol sogar in der Champions League auf und traf unter anderem gegen Real Madrid. Erfahrungen, die ihn fußballerisch und menschlich reifen ließen. So auch das letztlich unglückliche Intermezzo bei Hansa.
"Der Spielstil von Rostock ist nicht so fußballerisch. Da geht es viel über den Kampf, das ist nicht so mein Stil", sagt er. Der 30-Jährige blickt allerdings nicht im Zorn auf seine Zeit an der Küste (von Juli 2022 bis September 2023) zurück. Der Club, die Mitarbeiter und Fans hätten ihm sehr gefallen. Aber: "Fußballerisch war es nicht mein Verein. Dennoch habe ich viel daraus gelernt."
Neubeginn in Polens Zweiter Liga
Der Wechsel nach Polen - zumal zu einem Zweitligisten - kam für viele Experten trotz seiner Ausbootung bei Hansa überraschend. Doch bereut hat Thill den Schritt nicht. "Ich bin sehr überrascht über die Lebensqualität, die Stadien und die Liga. Das hatte ich nicht erwartet. Und es ist auch eine sehr schöne Stadt. Ich kann mich nicht beklagen", erklärte der Mittelfeldakteur. Sein Vertrag bei Rzeszow läuft aus. Thill spielt in den kommenden Wochen auch um seine Zukunft.
Sollte der 30-Jährige mit Luxemburg die EM-Qualifikation schaffen, hätte er im Sommer eine große Bühne, um sich für potenzielle neue Arbeitgeber zu empfehlen. Und er wäre in seiner Heimat gewiss ein Volksheld. Ohnehin fiebert das ganze Land schon jetzt dem Play-off-Halbfinale gegen Georgien entgegen. An vielen Orten im Großherzogtum wird es Public Viewing geben.
"Jeder meiner Spieler, die Verantwortlichen im Verband, ich selbst: Wir fiebern der Partie gegen Georgien entgegen", sagte Erfolgscoach Holtz: "Wenn man so nah dran ist, will man auch zur EM. Wir sind davon überzeugt, das Unmögliche möglich zu machen und sportliche Geschichte zu schreiben."
Coach Holtz Architekt des Luxemburg-Erfolges
Für den 54-Jährigen liegen die Gründe für den Höhenflug auf der Hand. Der Verband mit seinen gut 37.000 Aktiven (zum Vergleich: der DFB zählt über sieben Millionen Mitglieder) habe eine eigene Fußballschule ins Leben gerufen, "wo die Jugendspieler unter der Woche zusätzlich zum Vereinstraining trainieren können", berichtet der Trainer. Zudem würden viele Jugendspieler frühzeitig den Sprung ins Ausland wagen, vermehrt nach Deutschland. "Sie profitieren hier von anspruchsvollen Spielen sowie intensiven Trainingseinheiten."
Galt Ex-Bundesligaprofi Jeff Strasser (Kaiserslautern, Mönchengladbach) seinerzeit als Exot, verdient inzwischen ein Großteil des Kaders sein Geld im europäischen Ausland. Leo Barreiro vom 1. FSV Mainz 05 ist nur ein Beispiel von vielen. So kickt etwa Christopher Martins Pereira bei Spartak Moskau, Rekordschütze Gerson Rodrigues (20 Tore in 59 Länderspielen) in der Slowakei und Kapitän Laurent Jans (Waldhof Mannheim) wie acht weitere Spieler des aktuellen Kaders in Deutschland. "Als ich mein Amt angetreten habe, waren die Vorzeichen ganz andere", sagt Holtz: "Wir hatten lediglich einen Profi, der im Ausland tätig war, der Rest spielte in Luxemburg."
St. Paulis Sinani fehlt rotgesperrt in Play-offs
Mit der EM-Qualifikation soll die rasante Entwicklung des luxemburgischen Fußballs nun ihren vorläufigen Höhepunkt nehmen. Allerdings plagen den Nationalcoach vor den Play-offs Sorgen. In dem verletzten Vincent Thill, dem Bruder von Sébastien, sowie Danel Sinani fallen zwei Leistungsträger aus. Der Rechtsaußen vom FC St. Pauli ist nach einer Roten Karte im letzten EM-Qualifikationsspiel gegen Liechtenstein für die Ausscheidungsspiele gesperrt. Doppelt bitter für ihn: Er durfte auch nicht mit dem Team nach Tiflis fliegen. St. Pauli verweigerte dem 26-Jährigen dafür die Freigabe.
EM: Luxemburg würde in Hamburg spielen
So muss es Luxemburg ohne Vincent Thill und Sinani richten. Ein kleiner Trost für den Kiezkicker mag immerhin die Aussicht sein, dass er im Falle der EM-Qualifikation mit der Nationalmannschaft in seiner Wahl-Heimat auflaufen wird. Denn am 22. Juni trifft der Sieger der Play-offs in der Europameisterschafts-Gruppenphase im Volksparkstadion des HSV auf Tschechien.