Datenanalyse zu Gündogan: Deshalb läuft das Spiel am DFB-Kapitän vorbei
Ilkay Gündogan soll im System von Bundestrainer Julian Nagelsmann eigentlich das Spiel machen. Doch die Daten zeigen deutlich, dass der Nationalmannschafts-Kapitän nur wenig eingebunden ist. Das hat mit der Rückkehr von Toni Kroos zu tun. Aber die DFB-Team braucht auch Gündogans Stärken.
Offenbar hat man beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) gelernt. Anders als noch bis 1994 gab es in den vergangenen 30 Jahren keine Songs der Nationalmannschaft mehr vor einem großen Turnier. Über mehrere Jahrzehnte hinweg war es Usus, dass die deutschen Nationalspieler vor einer Europa- oder Weltmeisterschaft mehr oder weniger originelle Zeilen zu Musik von mehr oder weniger großer Qualität trällerten.
Der Lerneffekt? Der DFB lässt jetzt singen. Konkret: Kapitän Gündogan ließ vor ein paar Wochen gemeinsam mit Abwehrboss Antonio Rüdiger singen. In einer gemeinsamen Werbeaktion des Verbands und einer Film-Produktionsfirma leiteten die beiden Nationalspieler die Hollywood-Schauspieler Will Smith und Martin Lawrence ("Bad Boys") an, Fangesänge wie "Oh, wie ist das schön!" oder "Einer geht noch, einer geht noch rein!" zu intonieren. Auf Deutsch. Neue Hits? Abwarten!
Anleiten, in Position bringen, in Szene setzen, dirigieren: Das könnte - und sollte - auch die Aufgabe des DFB-Kapitäns bei der Europameisterschaft ab dem 14. Juni sein. Allerdings - das zeigten nicht zuletzt die guten Testspiele gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande (2:1), aber auch die durchwachsenen gegen die Ukraine (0:0) und Griechenland (2:1) - ist ausgerechnet Gündogan einer der Suchenden im Nagelsmann-System.
Nagelsmann baut das Team rund um Kroos - nicht um Gündogan
Dass das so ist, hat viel mit der Rückkehr von Kroos zu tun. Denn der gebürtige Greifswalder ist das Zentrum im DFB-Team. Um ihn herum baut Nagelsmann einen Orbit, nicht um Gündogan. Bedeutet für den Spielgestalter des FC Barcelona: eine neue Rolle. Doch wie genau soll die aussehen? Bleibt wenige Tage vor EM-Beginn weiter abzuwarten!
Auch wenn er bei den Katalanen in der zurückliegenden Saison fast ausschließlich im zentralen Mittelfeld in einer defensiveren Rolle (ähnlich der von Kroos im DFB-Team) zum Einsatz kam, setzt Nagelsmann ihn - da sich mit Kroos und Robert Andrich dort ein Duo gefunden zu haben scheint - als vorgeschobenen Spielmacher ein.
Mit seinen Stärken - seiner Antizipation, seinem guten ersten Kontakt, seinem exzellenten Passspiel - verkörpert Gündogan dem Index von Datendienstleister GSN zufolge in dieser speziellen Rolle "Weltklasse" (87,35).
Als offensiver (83,67) oder defensiver Mittelfeldspieler (82,68) erreicht er den Daten zufolge "nur" internationale Klasse. In der Theorie also bekleidet der 33-Jährige - über den Trainer-Mastermind Pep Guardiola jüngst sagte, Gündogan sei "einer der klügsten Spieler, die ich jemals trainiert habe" - eine sehr gut zu ihm passende Position.
Auffällig aber ist: In der Nationalmannschaft liegt Gündogans Performance-Score in den vergangenen Jahren durchgehend deutlich unter dem in seinen jeweiligen Clubs - im Kalenderjahr 2024 etwa bei 56,55 (DFB) zu 66,30 (Barcelona).
Dabei waren Gündogans physische Leistungsdaten - zurückgelegte Kilometer, Sprints oder Tempoläufe zum Beispiel - mit denen aus den Länderspielen im März gegen Frankreich und die Niederlande nahezu identisch. Große Unterschiede aber zeigen sich in seinen Passwerten. Hat er bei Barcelona in der zurückliegenden Saison im Schnitt mehr als 60 Pässe gespielt, waren es in den beiden März-Partien der Nationalmannschaft lediglich 45.
Gündogan erhält deutlich weniger Pässe
Gibt der gebürtige Gelsenkirchener im Dress der "Blaugrana" im Schnitt zwei Torschussvorlagen pro Begegnung, waren es in den Freundschaftsspielen gegen die beiden Nachbarn: null. Lange Pässe, Pässe ins letzte Drittel, Steckpässe, progressive Pässe - in allen Statistiken gibt es zwischen Club und Nationalmannschaft große Diskrepanzen.
Das hat zu einem großen Teil damit zu tun, dass Gündogan im DFB-Team im Schnitt zehn Pässe weniger erhält als im Trikot der Katalanen. Oder anders formuliert: Das Spiel, das klar auf Kroos ausgelegt ist, läuft an Gündogan vorbei. Das hatte bereits die Analyse zu Kroos' Pass-Schema im März gezeigt: Andrich, die Innenverteidiger Rüdiger und Jonathan Tah, aber auch die offensiven Außen Florian Wirtz und Jamal Musiala gehörten zu den häufigsten Passempfängern des gebürtigen Greifswalders.
DFB-Team ist auf Gündogans Stärken angewiesen
Das ist umso schwerwiegender für das deutsche Spiel, da es genau auf die Passstärke Gündogans - Steckpässe, Verlagerungen, Pässe in den Sechzehner - sowie seine Kreativität, Genialität und Handlungsschnelligkeit angewiesen ist, um Chancen zu kreieren.
Und darauf, dass Gündogan selbst zu Gelegenheiten kommt. Auch hier zeigt sich, dass er im DFB-Team viel seltener in gute Abschlusspositionen und zu Abschlüssen gelangt - und wenn auch noch unglücklich agiert wie bei seinem missratenen Kopfballversuch gegen die Ukraine.
Andere Räume besetzen, Räume durch Laufwege schaffen
Als vorgeschobener Spielmacher sollte Gündogan prototypisch als Verbindungsspieler zwischen Kroos und Andrich sowie Stürmer Kai Havertz, Musiala und Wirtz agieren - und die beiden extrem talentierten, manchmal aber auch noch etwas freigeistig agierenden Musiala und Wirtz führen. Etwa im Pressing.
Anders als in Barcelona soll der 33-Jährige im DFB-Team näher an der gegnerischen Abwehrkette spielen. Hier sollte er vor allem im Wechselspiel mit Stürmer Havertz agieren. Um besser eingebunden zu werden, muss er seine Rolle wahrscheinlich weiter anpassen - etwa, indem er noch gezielter in Halbräume und zwischen die gegnerischen Linien geht, um dort anspielbereit zu sein und das Spiel weiterzuleiten.
Anspielpartner für die Außen
Diese Laufwege sind umso wichtiger, da sie - selbst wenn er nicht angespielt wird - die gegnerische Defensive in Unordnung bringen und für die anderen offensiven Akteure Räume schaffen können, in die diese stoßen können, um sich Torchancen zu erarbeiten. Zudem könnte er, indem er sich zur Unterstützung der Außen Musiala oder Wirtz auf eine Seite bewegt, für eine Überlagerung sorgen und als Doppelpass-Partner agieren.
Voraussetzung hierfür wäre, dass er nach der Aktion schnell wieder ins Zentrum zurückschiebt, da ihm unter Nagelsmann auch eine defensive Rolle zukommt - insbesondere durch das Besetzen des Zentrums sowie der halblinken und halbrechten Räume im Mittelfeld.
Eher treibend als antreibend
Keine Frage, mit dieser Aufgabenfülle fremdelt Gündogan aktuell im Zusammenspiel noch. Seiner Rolle als vorgelagertem Tempo- und Taktgeber, als Bindeglied zwischen Defensive und Offensive, aber auch als Orchestrator des Pressings in vorderster Linie ist er in den zurückliegenden Länderspielen nur bedingt gerecht geworden. Er agiert wie ein Kapitän in einem um ihn herum rauschenden Meer. Eher treibend als antreibend.
Es ist etwas, das die europaweite Elite auf der Position, auch wenn diese die Rolle in den jeweiligen Teams natürlich auch anders interpretieren (dürfen), dem deutschen Kapitän durchaus voraushat: Real Madrids Jude Bellingham für England, Gündogans niederländischer Mannschaftskollege Frenkie de Jong in der "Elftal" oder Arsenal Londons Spielgestalter Martin Ödegaard im norwegischen Nationalteam leiten die Geschicke ihrer Mannschaft stärker.
Singen am Ende alle "Oh, wie ist das schön"?
Im letzten DFB-Test vor dem EM-Auftaktmatch gegen Schottland (14. Juni) gegen Griechenland passte weder in der Abwehr noch im Angriff viel - nicht bei Gündogan, nicht beim Team. "Träge" nannte der Kapitän den Auftritt, "ohne Intensität" die erschreckend schwache erste Hälfte. Weder der maue Kick am Freitag noch die Tatsache, wie wenig er eingebunden ist, sind allein seine Schuld, sondern in einem noch immer neuen System auch eine Frage der Findung.
Das Problem: Zeit, den Kapitän stärker an Bord zu holen, hat die Nationalmannschaft kurz vor Beginn der Heim-EM nicht mehr (viel). Für eine erfolgreiche Europameisterschaft Deutschlands aber sind Gündogans fußballerische Qualitäten vonnöten. Ansonsten bleiben die "Bad Boys" Smith und Lawrence die einzigen, die in diesem Sommer "Oh, wie ist das schön" intoniert haben.