Der Kroos-Orbit nimmt Form an: So baut Nagelsmann die DFB-Elf für die EM
Besseres Passspiel, mehr Balleroberungen, klare Struktur: Die Auftritte der Nationalmannschaft gegen Frankreich und die Niederlande waren mit Blick Richtung EM ein Mutmacher. Im Zentrum des DFB-Teams: Toni Kroos, um den herum Bundestrainer Julian Nagelsmann sein System entwickelt, wie die Daten zeigen.
Jetzt sprintet er auch noch. In der 23. Minute des Testspiels der DFB-Elf gegen die Niederlande (2:1) spielte Innenverteidiger Antonio Rüdiger aus der Abwehr heraus einen scharfen Pass auf Ilkay Gündogan an die Mittellinie. Unter Druck verlor der Kapitän den Ball. Die "Elftal" hätte gegen das aufgerückte Nagelsmann-Team einen aussichtsreichen Konter starten können.
Doch dann kam Kroos. Noch bevor der Ball bei Gündogan ankam, war der 34-Jährige losgesprintet, um ins Gegenpressing gehen zu können. Körper rein, Ballgewinn. Gefahr abgewendet, stattdessen eine eigene Angriffsoption.
Löw: Kroos kann "Situationen erfassen"
Ein perfekter Akt der Antizipation - mental wie physisch. Ein Ausdruck des starken Comebacks des gebürtigen Greifswalders, über den Ex-Bundestrainer Joachim Löw dieser Tage sagte, dass er "wie kaum ein anderer Situationen erfassen, Spiele analysieren" könne. Es war aber auch eine Szene, die stellvertretend für das deutlich verbesserte Spiel der Nationalmannschaft in den Partien gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande stand. Und die erstmals erkennen ließ, wie das Team doch eine erfolgreiche EM bestreiten könnte.
Eines ist nach den beiden Begegnungen klar: Alles wird sich um Rückkehrer Kroos drehen. Trotz seiner mittlerweile 34 Jahre, trotz seiner knapp dreijährigen Nationalmannschafts-Abstinenz. Als linker defensiver Mittelfeldspieler war der Profi von Real Madrid gegen Frankreich und die Niederlande Takt- und Tempogeber, Verbindungsspieler und Vorbereiter, Orchestrator und Organisator. Defensiv wie offensiv.
Nagelsmann baut Nationalmannschafts-Orbit um Kroos auf
Und Nagelsmann scheint auf einem guten Weg zu sein, einen perfekten Orbit um ihn herum aufzubauen: mit Robert Andrich als rechtem defensiven Mittelfeldspieler an seiner Seite, im Zusammenspiel mit den Innenverteidigern Rüdiger und Jonathan Tah, aber auch mit dem offensiven Dreigestirn Gündogan, Florian Wirtz und Jamal Musiala.
Bis auf Gündogan gehörten die fünf anderen sowie Debütant Maxi Mittelstädt als Linksverteidiger zu Kroos' Haupt-Anspielpunkten. Der Real-Profi agierte meist aus Halbräumen im Mittelfeld oder ließ sich neben Rüdiger und Tah auf die linke Verteidigerposition fallen, während Mittelstädt auf der Außenbahn vorschob. Die Rollen - oder um im Orbit-Bild zu bleiben -, die Bahnen, auf denen sich die Spieler (um Kroos herum) bewegen, werden klarer.
DFB-Elf mit höherem Spieltempo
Auffällig: die deutlich gesteigerte Passrate des Teams nach Kroos' Rückkehr. Hatte die Mannschaft in den Begegnungen zuvor durchschnittlich 576 Pässe gespielt, waren es den GSN-Daten zufolge gegen Frankreich 686 und gegen die Niederlande sogar 720. Mehr Pässe zulasten des Offensivdrangs? Keineswegs. Denn auch die Anzahl der offensiven Pässe und der Pässe ins letzte Drittel stieg signifikant an.
Nagelsmann scheint zwei Dinge implementieren zu wollen: Er möchte die Passlänge reduzieren, um Sicherheit ins Spiel zu bekommen, und zugleich die Passgeschwindigkeit erhöhen, um zu einem höheren Spieltempo zu kommen. Das gelang in beiden Partien mit Blick auf die Geschwindigkeit - also die Zahl der Pässe pro Minute Ballbesitz - recht gut: Hatte sie in den Spielen zuvor bei knapp 19 gelegen, betrug sie gegen Frankreich 20,80 und gegen die Niederlande 20,60.
Viele Akteure können Spiel beschleunigen
Der Bundestrainer setzt um Kroos herum - von dem in beiden Partien um die 95 Prozent Pässe ankamen - auf pass- und spielstarke Akteure: Musiala, Wirtz, Gündogan und den als Stürmer aufgebotenen Kai Havertz in der Offensive. Und Rüdiger, Tah und Andrich (alternativ Pascal Groß) geben dem Spiel gemeinsam mit dem Real-Profi aus der Defensive heraus Struktur. Allen gemein ist: Sie besitzen die Möglichkeit, das Spiel mit ihren Pässen zu beschleunigen.
Die "Ball Speed Transmission" (BST), bei der die angekommenen Pässe durch die Anzahl der Aktionen geteilt wird, ist dafür ein guter Indikator. Je näher an "1", desto schneller macht der Akteur das Spiel. Egal ob Kroos, Andrich oder Groß - sie alle erreichten in beiden Begegnungen sehr hohe Werte um die 0,75. Übertroffen wurden sie nur noch von den Innenverteidigern Rüdiger und Tah, die sogar bis zu 0,84 erzielten.
Nagelsmann setzt auf hohe Balleroberungen
Der Dreh- und Angelpunkt in Nagelsmanns System mit seiner Erfahrung und seinem Fußball-IQ aber ist Kroos. Er entscheidet, wann das Tempo erhöht wird, wann es verlangsamt wird. Er dirigierte Mitspieler auch schon mal gestenreich in Räume, um über Dreiecksbildungen immer mehrere Anspieloptionen für den ballführenden Spieler zu bieten. Oder im Defensivverhalten, wann es ins Gegenpressing geht.
Das ist eine weitere klar erkennbare Komponente, wie Nagelsmann seine Mannschaft spielen sehen will. Über Balleroberungen nach eigenem Ballverlust. So wie Vollsprint-Kroos in der 23. Minute gegen die Niederlande.
"Wenn wir Anpassungen machen und die Positionen klarer sind, hätten wir mehr Chancen herausgespielt." Bundestrainer Julian Nagelsmann
Sowohl gegen Frankreich als auch gegen die Niederlande gelang es der deutschen Mannschaft, mehr Bälle abzufangen - waren es vorher im Schnitt 38, waren es gegen die Franzosen 50, gegen die Niederländer immerhin 40. Vor allem gewann die Nationalmannschaft viel mehr Bälle in der gegnerischen Hälfte: 16 gegen Frankreich, 25 gegen die Niederlande. Zum Vergleich: In den Partien zuvor waren es im Schnitt keine elf gewesen.
Gepaart mit einer gestiegenen Zweikampfbereitschaft seines Teams scheint Nagelsmann eine gute Balance von Malochern und Maestros zu finden. Zumindest lobte er die "sehr große Aktivität für den Ballgewinn".
Das Manko: Aus den Balleroberungen machte das Team (noch) zu wenig. Oder wie der Bundestrainer nach dem Niederlande-Spiel sagte: "Mit Ball hätten wir, wenn wir ein paar Anpassungen machen und die Positionen ein bisschen klarer sind, noch viel mehr Chancen herausgespielt."
Gelingen mehr Linkup-Plays?
Und in der Tat ist das - zumal gegen eine so dicht gestaffelt spielende Mannschaft wie die "Elftal" - eine der Hauptaufgaben für Nagelsmann: Gemeinsam mit dem Team sogenannte Linkup-Plays für Ballbesitzphasen zu entwickeln. Übersetzt: Spielzüge und Laufwege zu konzipieren, die die Defensive des Gegners in Bewegung bringen, in Unordnung und Instabilität.
Die DFB-Elf probierte das in beiden Partien etwa, indem sich Havertz fallen ließ, um einen gegnerischen Innenverteidiger rauszuziehen und im dahinter entstehenden Raum Platz für Musiala, Wirtz und Gündogan zu schaffen. Alternativen dazu könnten den GSN-Experten zufolge auch die "Überlagerung" einer Angriffsseite, noch mehr Bewegung abseits des Balls ("Dritte-Mann-Läufe") oder das effizientere und gezieltere Einsetzen von Steilpässen sein.
So sähe aktuell die beste DFB-Elf aus
Es ist vielleicht auch ein Ansatzpunkt, den im Offensivverbund bisweilen noch etwas verloren wirkenden Kapitän Gündogan stärker einzubinden in den Kroos-Orbit. Doch schon jetzt ist mit Blick Richtung Europameisterschaft klar, dass der deutliche Form angenommen hat. Zumal er jetzt auch noch sprintet.
Die aktuell beste Zusammenstellung um ihn herum wäre den Daten nach in einem 4-2-3-1 übrigens:
Neuer - Raum, Rüdiger, Tah, Kimmich - Groß, Kroos - Wirtz, Gündogan, Musiala, Havertz