Datenanalyse: Wie Havertz als Stürmer das DFB-Spiel mitgestaltet
Kai Havertz hat zum Beginn der EM als Stürmer der deutschen Nationalmannschaft angefangen, nicht der "klassische Neuner" Niclas Füllkrug. Das liegt auch an Havertz' technischen und taktischen Fähigkeiten, das Spiel des DFB-Teams mitzugestalten, wie die Datenanalyse zeigt.
Ein bisschen Glück brauchte Havertz, um mit einem persönlichen Erfolgserlebnis in die Europameisterschaft gehen zu können - für einen Stürmer ist das wohl noch wichtiger als für die übrigen Feldspieler einer Fußballmannschaft. Im letzten Testspiel vor dem EM-Auftakt wurde sein Schuss kurz nach Beginn der zweiten Hälfte von einem Abwehrspieler unhaltbar zum 1:1 abgefälscht. Am Ende stand gegen Griechenland ein schmucklos-schwacher, wenn auch stimmungsaufhellender 2:1-Sieg kurz vor Turnierbeginn gegen Schottland.
DFB-Stürmer-Diskussion: Havertz oder Füllkrug?
Havertz hatte daran seinen Anteil, war in einem unkonzentriert agierenden DFB-Team einer der zielstrebigsten Akteure und traf schon in der ersten Halbzeit einmal - allerdings aus einer knappen Abseitsposition. Der 25-Jährige ist seit Wochen in guter Form, beendete die Saison beim FC Arsenal mit 15 Scorerpunkten in 14 Spielen - und passt besser in Julian Nagelsmanns System als Sturmkonkurrent Niclas Füllkrug, wie Datenanalysen des Global Soccer Network (GSN) für den NDR zeigen.
"Wenn Kai performt, hat er ein bisschen die Nase vorn", sagte Nagelsmann unlängst zum Zweikampf Havertz vs. Füllkrug. Aber was verlangt der Bundestrainer von seiner Sturmspitze? Die Rolle des Angreifers hat sich in den vergangenen Jahren weiter verändert - ähnlich wie die Außenverteidigerposition von Joshua Kimmich. Anders als Füllkrug, der eher den "klassischen" großgewachsenen, kantigen Mittelstürmer-Typ verkörpert, soll Havertz das Spiel mit seiner Kreativität und Passsicherheit mitprägen.
Havertz im Zusammenspiel mit Kroos und Andrich
Als hängende Spitze muss der Ex-Leverkusener den Analysen der GSN-Experten zufolge die Verbindung zwischen dem zentralen Mittelfeld - also Toni Kroos und Robert Andrich - und dem Angriff herstellen. Das bedeutet auch, dass er sich regelmäßig fallen lassen muss, um den Ball von Kroos und Andrich abzuholen. Diese Bewegungen schaffen Überzahl im Mittelfeld, wodurch die Mannschaft den Ball besser kontrollieren kann. Indem er sich zurückzieht, bietet Havertz zudem eine zusätzliche Anspielstation, die es ermöglicht, das Pressing des Gegners zu überwinden.
Kroos, Andrich und Havertz müssen das Passspiel immer wieder in Dreiecksformationen aufziehen: Die kurzen, präzisen Pässe helfen, den Ballbesitz zu sichern, das Spiel schnell in die Offensivzonen zu verlagern - und das Pressing des Gegners zu umspielen und Räume zu öffnen. Havertz hat hierbei eine integrale Bedeutung, da er mit seinen Bewegungen Spielzüge "auslösen" kann - sogenannte Linkup-Plays. Übersetzt ist das Ziel, Pässe und Laufwege so zu konzipieren, dass die die Defensive des Gegners in Bewegung gebracht wird, in Unordnung und Instabilität.
Gündogan und Havertz müssen noch besser zueinander finden
Auch das Zusammenspiel mit Kapitän Ilkay Gündogan, der als vorgeschobener Spielmacher agiert und damit noch immer fremdelt, ist dafür von großer Bedeutung. Gündogan und Havertz sollten den GSN-Anlysen zufolge flexibel ihre Positionen wechseln, um die gegnerische Abwehr zu verwirren und Räume zu schaffen. Verteidiger werden so gezwungen, ihre Zuordnungen anzupassen. Das Angriffsspiel der deutschen Mannschaft wird so flexibler, dynamischer und unberechenbarer.
Ein Stilmittel zwischen den beiden können und müssen Pässe und Doppelpässe sein: In Andeutung war das bei Havertz' Abseitstor gegen Griechenland zu sehen - insgesamt aber noch zu wenig. Das funktionierende Zusammenspiel der beiden ist elementar, um das gegnerische Mittelfeld zu durchbrechen und Torchancen zu kreieren. Gerade gegen tiefstehende Gegner.
Gleiches gilt in Richtung der Flügelspieler Florian Wirtz (links) und Jamal Musiala / Leroy Sané (rechts), um die Halbräume effektiv zu nutzen und Überzahlsituationen auf den Flügeln zu schaffen. Diese Bewegungen von Havertz auf die Außen können Verteidiger aus ihren Positionen ziehen und Räume für Wirtz und Musiala öffnen.
Diskrepanz in der Leistung zwischen Club und DFB-Team
Havertz versteht sich nicht als "klassische Neun. Wo gibt es die noch? Selbst Erling Haaland oder Harry Kane, an die man sofort denkt, stehen nicht nur in der Box und warten auf den Abschluss. Die Spieler, die da warten, gibt es im modernen Fußball nicht mehr".
Trotzdem sehe er sich "klar als Neuner - das bin ich jetzt auch bei Arsenal", so Havertz. Anders als im Verein bringt er sein Potenzial in der Nationalmannschaft aber noch zu selten auf den Platz. Sein von GSN errechneter Performance-Score ist in dieser Saison im Verein (70,20) deutlich höher als im DFB-Team (57,52), in den vergangenen fünf Jahren lagen zwischen diesen Werten sogar zeitweise 20 Punkte Differenz.
"Ich bin jemand, der Spaß daran hat, sich fallen zu lassen, Tiefenläufe zu machen. Mir ist aber auch klar, dass ich an Toren gemessen werde." Nationalstürmer Kai Havertz
Zumal die Position - siehe Havertz selbst - europaweit durchaus immer häufiger mit anderen Spielertypen besetzt wird: dem Belgier Kevin de Bruyne von Manchester City (95,41) zum Beispiel oder dem Portugiesen Bruno Fernandes von Stadtrivale United (94,11), die laut GSN-Index beide Weltklasse verkörpern. Das trifft auch auf Havertz zu - sowohl als Stürmer (87,16), zentraler (88,26) oder als offensiver Mittelfeldspieler (90,88).
"Ich bin jemand, der Spaß daran hat, sich fallen zu lassen, Tiefenläufe zu machen", sagt Havertz: "Mir ist aber auch klar, dass ich an Toren gemessen werde." 16 hat er bislang im Nationaltrikot erzielt. In 46 Spielen. Das bislang letzte gegen Griechenland.
Füllkrugs "maximale Unterstützung" für Havertz
Füllkrug sichert Havertz "maximale Unterstützung" zu: "Ich wünsche ihm jedes Tor, das er nur machen kann. Weil es uns als Land, als Nation nach vorne bringt." Er sagt aber auch: "Es war seltenst so, dass die Startelf aus dem ersten Spiel das ganze Turnier gespielt hat."
Und auch wenn der 31-Jährige unter Nagelsmann mit vier Toren ein Mal mehr getroffen hat als Havertz, gibt es auch jenseits aller technischen und taktischen Fähigkeiten noch eine Sache, die für den Arsenal-Stürmer spricht: Aus dem aktuellen DFB-Kader hat nur der 25-Jährige bei einer EM-Endrunde getroffen.