Datenanalyse zu Jonathan Tah - Darum ist der DFB-Verteidiger so stark
Gemeinsam mit Antonio Rüdiger bildet Jonathan Tah die Innenverteidigung der Nationalmannschaft bei der EM. Der gebürtige Hamburger ist in der Form seines Lebens - das belegen auch die Daten. Mit 28 Jahren hat er endlich die Karriere, die ihm immer prophezeit wurde - im DFB-Team und bald vielleicht auch beim FC Bayern München.
Deutschland singt sich so langsam in EM-Laune. Beim 2:0 gegen Ungarn am Mittwoch - dem zweiten Sieg der Nationalmannschaft im zweiten Gruppenspiel - verliehen die Fans in der Stuttgarter Arena mit ihren "Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin"-Rufen den Titel-Träumen Ausdruck. Am 14. Juli findet im dortigen Olympiastadion das Endspiel statt. Der Glaube an ein "Sommermärchen 2.0" - einer Art Neuauflage der mit Platz drei starken Heim-WM 2006 - wächst!
Verbunden sind diese Träume insbesondere mit der Offensive um die jungen Zauberfüße Florian Wirtz und Jamal Musiala - gemeinsam nur noch "Wusiala" genannt -, Stürmer Kai Havertz, "Uhrwerk" Toni Kroos oder den formstarken Kapitän Ilkay Gündogan. Dessen 2:0 gegen Ungarn bedeutete einen deutschen EM-Rekord: Noch nie erzielte ein DFB-Team sieben Tore in der Vorrunde einer Europameisterschaft.
Erst ein Gegentreffer für DFB-Team - und das war ein Eigentor
Im allgemeinen Jubel über die Offensive geht dabei fast unter, dass Deutschland bislang nur einen Gegentreffer kassiert hat - und den durch ein unglückliches Eigentor von Rüdiger beim 5:1-Auftaktsieg über Schottland auch noch selbst erzielte. Und trotz des Missgeschicks des 31-Jährigen: Rüdiger und insbesondere sein Nebenmann Tah spielen bislang ein starkes Turnier.
Nach Jahren, in denen die Innenverteidigung des DFB-Teams eine der größten Baustellen war, haben die beiden - im Verbund mit Kroos und Robert Andrich - dem deutschen Spiel in den vergangenen Monaten wieder zu mehr defensiver Stabilität verholfen.
Tah in der besten Phase seiner Karriere
Während Rüdiger, der mit Real Madrid Anfang Juni bereits seinen zweiten Champions-League-Titel holen konnte, seit Jahren zu den besten Abwehrspielern Europas zählt, hat der gebürtige Hamburger Tah sich insbesondere in den vergangenen zwölf Monaten zu einem absoluten Leistungshoch aufgeschwungen.
Nie in seiner Karriere lag sein Performance-Score den Daten des Global Soccer Networks (GSN) zufolge höher als im Sommer 2024 - bei 75,08. Sein bis dato bester Wert stammte aus der Spielzeit 2021/2022 und hatte bei 69,23 gelegen, in der vergangenen Saison lediglich bei 63,38. Eine Entwicklung, die auch für die Nationalmannschaft gilt.
Mit seinen Leistungen hat er sich laut GSN-Index als Spieler von "internationaler Klasse" etabliert (80,42) und könnte sich sogar noch steigern (82,33). Doch auch so: Meister und Pokalsieger mit Bayer Leverkusen, nur eine Pflichtspiel-Niederlage auf Club-Ebene, Stamm-Innenverteidiger unter Bundestrainer Julian Nagelsmann und ein kolportierter Wechsel zu Rekordmeister Bayern München - mit 28 Jahren macht Tah die Karriere, die ihm immer prophezeit worden war.
Nachdem er in der Jugend bei Altona 93 und Concordia Hamburg kickte, wechselte er mit 13 Jahren zum HSV, zog mit 15 in dessen Jugendinternat. Erster Profi-Vertrag mit 16 - und mit 17 Jahren, sechs Monaten und 13 Tagen das Profi-Debüt. Als damals jüngster Spieler in der Bundesliga-Geschichte der Hamburger.
Das 1:0 gegen Ungarn begann mit einem Tackling Tahs
Er sei ein "ziemlich kompletter Spieler", hat Ex-Nationalspieler Bernd Schuster einst über Tah gesagt. Das war nach einem Länderspiel Deutschlands gegen Spanien - in der U16. Schon damals überzeugte der Hamburger mit Robustheit, gutem Passspiel, seiner enormen Schnelligkeit und einer großen Ruhe. Es sind Dinge, mit denen er den GSN-Daten nach auch heute noch überzeugt - plus sein gereiftes taktisches Verständnis.
Wie gut der Sohn einer Deutschen und eines Ivorers in Form ist, zeigte sich am Mittwoch gegen Ungarn unter anderem in der 22. Minute: Im Vollsprint und mit langem Bein spitzelte Tah tief in der ungarischen Hälfte seinem Gegenspieler den Ball weg. Gegenpressing in Perfektion, Balleroberung - und die Grundlage für die Führung des DFB-Teams. Durchschnittlich vier solcher Balleroberungen im Gegenpressing hatte Tah pro Partie in der vergangenen Bundesliga-Saison.
Hohe Anforderungen an Innenverteidiger im Nagelsmann-System
Oder in der 57. Minute gegen Ungarn: Da stand Tah erneut tief in der gegnerischen Hälfte und spielte einen Steckpass in Richtung des Sechzehners, machte also das Spiel des DFB-Teams mit einem vertikalen Ball schnell. Kein Innenverteidiger in Deutschlands höchster Spielklasse hat bessere Passwerte als Tah - bei der EM kommen bislang 97 Prozent seiner Bälle an.
In derselben Sequenz ging der Ball wenig später verloren und der 28-Jährige schloss im Vollsprint eine durch das Vorrücken von Linksverteidiger Maximilian Mittelstädt entstandene Lücke auf der linken Seite, grätschte den Ball ins Aus und verhinderte einen möglichen ungarischen Konter. Auch im Kampf um freie Bälle gehört Tah zum Besten, was die Bundesliga zu bieten hat.
Die Szenen verdeutlichen die hohen Anforderungen an die Abwehrspieler in Nagelsmanns System, sowohl im Spielaufbau als auch in der Kernkompetenz des Verteidigens - und zeigen, dass Tah genau der Richtige für den Job ist. Mit 1,95 Meter hat der Hamburger "Gardemaß", ist zweikampf- und kopfball-, aber eben auch sprintstark. Zudem ist er gut in seiner Positionierung und in der Antizipation des gegnerischen Spiels - und mit seiner Spielintelligenz wichtig im Aufbau aus der eigenen Defensive heraus.
Zähe Jahre zwischen HSV-Wirren, Düsseldorf und Leverkusen
Der erste gemeinsame Einsatz von Rüdiger und Tah in der Innenverteidigung des DFB-Teams liegt bereits mehr als acht Jahre zurück. Im März 2016 wurde Tah während eines Testspiels gegen England für Mats Hummels eingewechselt. Erst mit der Verpflichtung von Nagelsmann als Bundestrainer im vergangenen Herbst aber rückte das Duo dauerhaft in die Stammformation, wobei Rüdiger dort sozusagen auf Tah wartete.
Denn so kometenhaft sein Aufstieg war, im gleichen Tempo ging die Karriere des heute 28-Jährigen nicht weiter. In den verzweifelten Abstiegskämpfen des HSV Mitte der 2010er-Jahre verlor das Abwehrtalent über zahlreichen Trainerwechseln seinen Stammplatz. Einer Ausleihe zu Fortuna Düsseldorf folgte 2015 der Wechsel nach Leverkusen.
Tahs verzögerte Karriere-Explosion
Doch auch hier war Tah - aller Vorschusslorbeeren zum Trotz - keineswegs immer unumstritten. Im Gegenteil: Noch vor der jüngsten Fabelsaison mit Bayer, an der Tah einen großen Anteil hatte, standen die Zeichen eher auf Abschied in Richtung England. Und im DFB-Team kämpfte er über Jahre hinweg abwechselnd mit Hummels, Jerome Boateng, Niklas Süle, Nico Schlotterbeck und Rüdiger um einen Platz im Abwehrzentrum.
Ein wenig wirkte es so, als hätte Tah eine gute, aber nicht die herausragende Karriere, die ihm immer vorhergesagt wurde. Die Trainerwechsel im Club zu Xabi Alonso und in der Nationalmannschaft hin zu Nagelsmann haben dieses Bild in den vergangenen zwölf Monaten gedreht. Bei beiden ist er unangefochten: als Innenverteidiger, als Leader.
Bei Leverkusen haben sich, seit Alonso übernommen hat, insbesondere sein Passspiel, aber auch seine Offensivgefahr deutlich verbessert. Ein Beispiel: Tahs Siegtreffer im DFB-Pokal-Viertelfinale gegen den VfB Stuttgart kurz vor dem Ende (3:2).
"Uns macht die Kommunikation stark. Es passt einfach. Er ist auch ein Leader." Tahs Innenverteidiger-Kollege Antonio Rüdiger
Mit Blick auf die Nationalmannschaft und die EM gebe ihm das vom Bundestrainer ausgesprochene Vertrauen ein "gutes Gefühl", berichtete Tah vor dem Turnier. Nach dem Doublegewinn mit Leverkusen ist das Selbstvertrauen groß. Zurücklehnen, betont Tah, dürfe er sich aber nicht. Und so arbeiten Rüdiger, der mit einem GSN-Index von 87,06 sogar "Weltklasse"-Format hat, und er konstant weiter an sich - und miteinander.
"Wir haben schon viel miteinander trainiert, als Boateng und Hummels noch gespielt haben", sagt Rüdiger, von dem Tah sich insbesondere im Kopfballspiel sowie im Eins-gegen-eins noch etwas abschauen kann, über seinen Nebenmann in der DFB-Auswahl: "Uns macht die Kommunikation stark. Es passt einfach", sagt der Real-Verteidiger, der "emotionale Anführer", der aber auch Tah auch "als einen Leader" beschreibt.
Stürmer Füllkrug fühlt sich "sehr, sehr sicher mit den beiden"
Den Mitspielern gibt die Innenverteidigung ein gutes Gefühl auf dem Platz. Rüdiger und Tah hätten sich "auf dem allerhöchsten Niveau bewiesen", sagt Stürmer Niclas Füllkrug. Beide verfügten über ein "hohes Grundtempo, extreme Dynamik und ein gutes Kopfballspiel". Sie seien zudem "Weltklasse am Mann". Kurzum: "Ich fühle mich sehr, sehr sicher mit den beiden."
Und Bundestrainer Nagelsmann, der im tristen November nach dem 0:2 im Testspiel gegen Österreich desillusioniert geäußert hatte, die DFB-Spieler würden "auch im Sommer keine Verteidigungsmonster werden"? Der hat in Rüdiger und dem besten Tah aller Zeiten vielleicht eben doch genau das: "Verteidigungsmonster".
Das letzte Mal, dass dies der Fall war, war 2014. Die Innenverteidiger hießen damals Hummels und Boateng - und auch sie standen im Schatten der Offensive um Miroslav Klose, Thomas Müller, Mesut Özil und Co. Am Ende war Deutschland Weltmeister. Vielleicht sind die Träume der Fans von "Berlin" also gar nicht so unberechtigt. Auch dank Tah.