Stand: 27.01.2020 11:03 Uhr

"Colt" Sievers in Schottland: Ein Schuss Abenteuer

von Andreas Bellinger, NDR.de

96-Legende Jörg Sievers ist seinem Freund Daniel Stendel zu den Heart of Midlothian gefolgt. Als Assistent von Hannovers Ex-Trainer soll er den schottischen Traditionsclub vor dem Abstieg retten. Ein Abenteuer, auf und abseits des Platzes nach Jahrzehnten bei Hannover 96.

In Fußballerkreisen nennt man so etwas wohl einen Auftakt nach Maß. Tatsächlich hätte sich Jörg Sievers seinen Einstand im Stadion der Heart of Midlothian nicht besser ausmalen können. Erst vor ein paar Tagen bei dem Traditionsverein aus Edinburgh gelandet, schaffte er als rechte Hand von Trainer Daniel Stendel gleich eine kleine Sensation mit seinem neuen Club. Die Hearts schlugen in der schottischen Premiership den auf Platz zwei thronenden 44-maligen Meister Glasgow Rangers mit 2:1 und ließen die Anhänger des Tabellenletzten nach dem ersten Sieg seit Anfang November umgehend von besseren Zeiten träumen. "Jetzt fehlen nur noch die Siege", hatte der 54-Jährige noch vor der Partie am Sonntag geunkt - und prompt geliefert.

Sievers' Entscheidung für das Abenteuer

Dabei war der Schritt, seinem Freund und langjährigen Weggefährten Stendel nach Schottland zu folgen, nicht ganz so leicht, wie er es im Sportclub des NDR glauben machen wollte. Verständlich - nach mehr als 30 Jahren bei Hannover 96, in denen er erst als Keeper und schließlich als Torwart-Trainer mehr war als das Gesicht der "Roten". Sievers und 96 galten als fast so unzertrennlich wie die niedersächsische Landeshauptstadt und der Maschsee. Als er Anfang des Jahres dem Ruf des im März 2017 bei 96 vom Hof gejagten Stendel folgte, ließ Sievers in Hannover enttäuschte Fans mit Fragezeichen auf der Stirn zurück. "Sie haben mich in all den Jahren immer unterstützt", weiß er. Seine Entscheidung hat es trotzdem nicht ändern können. "Die Freude über das Neue überwiegt", sagt Sievers, der mitunter "Colt" genannt wird - wie der Titelheld der legendären TV-Serie "Ein Colt für alle Fälle". "Ich habe mich zur Veränderung entschieden, fürs Abenteuer."

Ein "Colt" für alle Fälle

In Edinburgh, wo die Hearts beheimatet sind, ist er sogleich befördert worden - vom Torwart-Trainer zum Assistenten. Ein Colt für alle Fälle sozusagen. Stendel hatte Anfang Dezember in Schottland angeheuert, nachdem er beim englischen Zweitligisten FC Barnsley gehen musste. Die Schotten mögen seine emotionale Art, die Ungeduld und den Optimismus im Abstiegskampf. "Ich bin froh, dass Jörg da ist", sagt der Cheftrainer. "Die Legende hat Hannover verlassen. Ein schlechtes Gewissen habe ich deshalb aber nicht."

Der Pokal machte ihn zur Legende

Sievers hat an der Leine immerhin eine Lebensstellung aufgegeben. Bis 2003 stand er 14 Jahre lang zwischen den Pfosten, bestritt 492 Spiele für Hannover 96. Zwei ganz besondere machten ihn zur Legende und führten den Zweitligisten 1992 zum Triumph im DFB-Pokal. Schon im Halbfinale gegen Werder Bremen hatte er dem Elfmeterschießen seinen Stempel aufgedrückt, verwandelte selbst und parierte gegen Nationalspieler Marco Bode. Im Finale gegen Gladbach (4:3) erwies er sich abermals als Elfmeter-Killer, hielt die Versuche von Karlheinz Pflipsen und Holger Fach.

Drei Jahrzehnte bei Hannover 96

"Ich werde immer ein Roter bleiben - auch wenn ich jetzt in Schottland bin", sagt Sievers, der bei den Hearts für zweieinhalb Jahre unterschrieben hat. Dass er die Niedersachsen nach dem bitteren Abstieg in die Regionalliga 1996 nicht im Stich ließ, haben ihm die Fans bis heute nicht vergessen. Auch die nicht, die 1989, als er nach schriftlicher Bewerbung seinen ersten Profivertrag unterschrieb, noch gar nicht geboren waren. 2003 wechselte er vom Kasten auf den Posten des Torwart-Trainers.

Insgesamt drei Jahrzehnte blieb er 96 treu, erlebte die Tragödie um "seinen" Keeper Robert Enke und diente unter 32 96-Trainern - von Slobodan Cendic über Rolf Schafstall, Ralf Rangnick und Mirko Slomka bis hin zu Kenan Kocak, der für ein paar Tage seine Nummer 33 war.

Stendel: "Wir brauchen einfach mehr Tore"

Nun also Edinburgh. Wohl auch des Geldes wegen. In ein paar Tagen kann Sievers in sein neues Apartment einziehen, dann ist zumindest seine Zeit im Hotel vorbei. Die Familie ist in Hannover geblieben. "Mehr als Video-Telefonie ist momentan nicht drin", sagt Stendel, der schon gelernt hat, dass grün (die Farbe des Lokalrivalen Hibernian Edinburgh) nicht überall in der "tollen Stadt" gern gesehen wird. Zwei Spieler und drei Co-Trainer hat der neue Chef schon ausgetauscht - weitere Verstärkungen neben dem Ex-Osnabrücker Donis Avdijaj sind geplant.

"Wir müssen uns vor allem im Sturm verstärken, brauchen einfach mehr Tore", nennt er das große Manko. Die Fans halten dem Club, der in der vorigen Saison Platz sechs belegt hat und laut Stendel unter die ersten Drei der Liga gehört, trotz Abstiegskampf die Treue.

Heart of Midlothian - Eine Aura wie Schalke

"Die Ergebnisse sind natürlich das Wichtige." In Edinburgh wie daheim in Hannover, wohin der Blick von Sievers und Stendel reflexartig an jedem Spieltag der zweiten Bundesliga auch geht. "Die Fans der Hearts stehen mit allem, was sie haben, hinter dem Club", sagt Sievers. Dabei sind die großen Zeiten mit vier Meistertiteln, acht Pokal- und vier Ligapokalsiegen schon einige Jahre her. Aber der Verein habe eben eine Aura wie in Deutschland vielleicht der FC Schalke 04. Das hat Sievers nicht zuletzt beim knappen Sieg gegen die Rangers im Tynecastle Park gemerkt. Er sieht es als "noch mehr Ansporn für uns, das Ruder rumzureißen".

Dieses Thema im Programm:

Sportclub | 26.01.2020 | 22:50 Uhr

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