Stutthof-Prozess: Urteil erwartet - Anwälte bemängeln Dauer
Heute endet ein historischer Prozess: Dann wird gegen die ehemalige Sekretärin im KZ Stutthof Irmgard F. das Urteil gesprochen. Ihr wird Beihilfe zum Mord in Tausenden Fällen vorgeworfen. Aus Sicht einiger Anwälte der Nebenklage hat die Verhandlung zu lange gedauert.
Seit Anklageerhebung am 30. September 2021 haben sie an 40 Tagen verhandelt: Die Richterinnen und Richter des Landgerichtes Itzehoe (Kreis Steinburg), die zwei Verteidiger der Angeklagten Irmgard F. und 14 Anwältinnen und Anwälte der Nebenklage. Meist kamen sie an einem Dienstag zusammen, nur zwei Stunden am Stück, denn eine längere Verhandlungsdauer konnte der Angeklagten wegen ihres hohen Alters nicht zugemutet werden. Das hatte die medizinische Untersuchung ergeben.
Vorwurf: Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen
Die 97-Jährige ist wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen angeklagt. Sie hatte 1943 bis 1945 im KZ Stutthof bei Danzig als Schreibkraft gearbeitet. Dort soll die Sekretärin in der Kommandantur von den Vorgängen im Lager gewusst haben. Irmgard F. war nach Kriegsende nach Schleswig-Holstein gezogen und hatte hier weiter als Schreibkraft gearbeitet. Die Rentnerin lebt in einem Altenheim im Kreis Pinneberg. Wegen des großen Interesses an dem Prozess hat das Landgericht Itzehoe die Verhandlung in eine Halle eines Logistikunternehmens in der Stadt verlegt.
3.600 Seiten Prozessakten
In gut 14 Monaten schwollen die Prozessakten auf ungefähr 3.600 Seiten an. Dazu kam ein USB-Stick mit etwa 2.000 Vernehmungsprotokollen. 14 Zeuginnen und Zeugen wurden gehört, acht davon selbst Überlebende des KZ Stutthof. Alle berichteten über ihre Leidenszeit im Lager. Nur Josef Salomonovic kam für seine Aussage nach Itzehoe. Alle anderen wurden per Video-Konferenz in den Saal geschaltet. In den meisten Fällen wurde übersetzt, da sie in ihren Muttersprachen aussagten: Polnisch oder Litauisch. Alle gaben den Prozessbeteiligten einen Einblick in die Gräueltaten der SS.
Es gab die Befürchtung, dass die Angeklagte stirbt
Im März und April dieses Jahres musste der Prozess fünf Wochen pausieren, weil die Angeklagte krank war. Damals befürchteten vor allem die Überlebenden und deren Anwälte, dass Irmgard F. nicht mehr in den Verhandlungssaal zurückkehren würde. "Wir hatten Angst, dass sie vielleicht stirbt", sagt Josef Salomonovic. Doch sie wurde wieder gesund und der Prozess wurde am 26. April fortgesetzt. Nach der Sommerpause wurde der Tag für die Urteilsverkündung immer wieder genannt: 20. Dezember 2022. Ob der zu halten sein würde, war bis zum letzten Verhandlungstag offen.
Die Anklageerhebung habe zu lange auf sich warten lassen
Die Unterlagen mit den Voruntersuchungen zum Fall Irmgard F. hatte die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg bereits am 11. Juli 2016 an die Staatsanwaltschaft Itzehoe geschickt. Nachdem diese am 1. Februar 2017 die Beschuldigte über die Vorwürfe informiert und eine Durchsuchung ihres Zimmers im Altenheim in Quickborn (Kreis Pinneberg) veranlasst hatte, dauerte das Ermittlungsverfahren vier Jahre. Erst am 27. Januar 2021 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage.
Anwalt wirft Staatsanwaltschaft Itzehoe Verfahrensverzögerung vor
Der Lübecker Anwalt Hans-Jürgen Förster vertritt vier Überlebende in diesem Verfahren und er sagt: "Dieser lange Zeitraum bis zur Anklageerhebung ist nicht vertretbar. Die Kammer wird sich intensiv dazu verhalten müssen." Die Staatsanwaltschaft entgegnet: Die Ermittlungen im Fall Irmgard F. seien viel aufwändiger gewesen, als in Fällen, in denen es beispielsweise um Wachmänner ging. Es habe nie zuvor einen Prozess gegen Zivilangestellte gegeben. Oberstaatsanwalt Peter Müller-Rakow sagte: "So mußten beispielsweise sämtliche aus dem Konzentrationslager greifbare Dokumente auf ein möglicherweise von der Beschuldigten hinterlassenes Namenszeichen oder eine Unterschrift durchgesehen werden. Es sind zahlreiche Vernehmungen von Zeugen in Deutschland und (...) auch in den USA und Israel erfolgt." Sechs Nebenklägerinnen und Nebenkläger sind in der Zwischenzeit verstorben. Darauf weisen auch die anderen Anwälte der Nebenklage hin. Für ihre verstorbenen Mandantinnen und Mandanten komme das Urteil zu spät.
Kritik an Organisation des Prozesses
Förster kritisiert außerdem, "dass die gerichtliche Hauptverhandlung durch längere Verhandlungszeiten oder durch eine höhere Frequenz von Hauptverhandlungstagen zu beschleunigen gewesen wäre." Er habe schon früh den Vorschlag gemacht, das Gericht in die Nähe des Wohnortes der Angeklagten zu verlegen. Ohne Erfolg. Die Sprecherin des Gerichts, Frederike Milhoffer, entgegnete dazu: "Es war schlicht keine andere geeignete Liegenschaft verfügbar und es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass eine näher am Wohnort der Angeklagten liegende Liegenschaft den Prozess beschleunigt hätte." Aufgrund des hohen Alters der Angeklagten wäre es auch dann nicht möglich gewesen, häufiger zu verhandeln, so Milhoffer weiter.
Antrag auf Rüge gegen das Gericht
"Ein solches Verfahren ist für alle Nebenklägerinnen und Nebenkläger, aber auch die Angeklagte selbst eine erhebliche Belastung", so Förster. "Alle wissen um die Endlichkeit des Lebens und deswegen haben alle Beteiligten einen Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit nach Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention." Der Artikel beschreibt das Recht auf ein faires Verfahren - und dieses Recht sieht aber nicht nur Dr. Hans-Jürgen Förster verletzt. Nach dessen Plädoyer erhebt auch Rajmund Niwinski im Namen der Nebenklägerinnen und Nebenkläger eine Verzögerungsrüge gegen das Gericht, woraufhin Förster die gleiche Rüge zu Protokoll gibt und ergänzt, "falls diese Rüge aus meinem Plädoyer nicht hervorgegangen ist."
Der Itzehoer Stutthof-Prozess in Zahlen/ Daten/ Fakten