Schiffsmüll: Meere verdrecken - Tiere sterben
Der "Lummenfelsen" auf Helgoland ist ein Dorado für Beobachter von Hochseevögeln: Jedes Jahr brüten hier Lummen, Basstölpel, Tordalke, Dreizehenmöwen und Eissturmvögel. Was die Vogelfreunde durch ihre langen Teleobjektive zu sehen bekommen ist allerdings nicht immer erfreulich: Denn zwischen den dicht gedrängten Brutpaaren hängen immer mehr erdrosselte Basstölpel und Lummen, die dort teilweise seit Jahren verwesen.
Das Drama am Vogelfelsen
Zum Verhängnis werden ihnen meist Plastikschnüre. Die Tiere nutzen für den Nestbau eigentlich Tang und Algen, doch wählerisch sind sie nicht - sie nehmen, was auf dem Meer herumtreibt. Und das ist immer öfter Plastikmüll, und zwar vor allem Netzreste aus der Fischerei. Die feinen Schnüre sind tückisch: Hat sich ein Vogel darin verheddert, kann er sich nur selten wieder befreien. Ein Großteil der betroffenen Tiere verendet kläglich.
Das Drama am Vogelfelsen ist eine der sichtbarsten Folgen der Plastikmüllschwemme in den Weltmeeren. Eissturmvögel sind ebenfalls betroffen, auch wenn sie keine Nester aus Plastikmüll bauen. Denn die Vögel sind echte Allesfresser: "Sie mussten bis vor wenigen Jahrzehnten überhaupt nicht selektiv sein", erläutert der Meeresbiologe Nils Guse vom Forschungs- und Technologiezentrum Westküste (FTZ) in Büsum. "Im Prinzip war ein Großteil der Dinge nahe der Meeresoberfläche für sie als Nahrung geeignet." Doch was die Vögel für Nahrung halten, sei immer öfter Plastikmüll: "Das heißt, sie können das nicht unterscheiden und fressen dann den Müll an der Meeresoberfläche."
95 Prozent haben Plastik im Magen
Anders als etwa Möwen würgen Eissturmvögel unverdauliche Teile nicht heraus. Das macht sie zu idealen Forschungsobjekten. Niederländische Forscher untersuchen die Vögel seit 1982; seit 2002 beteiligen sich alle Nordseeanrainer an dem Programm. Es sollte eigentlich zeigen, dass die im Jahr 2000 beschlossenen Maßnahmen zum Schutz der Nordsee greifen. Doch das tun sie nicht. Zwar schwanke der Anteil der Vögel, die Plastik im Magen haben - doch er sinke nie unter 90 Prozent, berichtet Guse. Derzeit finden die Forscher in 95 Prozent der Vogelmägen Plastik.
Großteil des Mülls stammt von Schiffen
Während in anderen Teilen der Welt ein Großteil des Plastikmülls von Land stammt, sind die Quellen im Bereich der Nordsee vor allem die Schifffahrt und die Fischerei, so das übereinstimmende Fazit zahlreicher Forscher. Ein Grund: Die Entsorgung des Mülls in den Häfen kostet die Schiffseigner und Reedereien Geld. Um diese Kosten zu sparen, werfen manche Seeleute die Abfälle offenbar einfach über Bord. Und das obwohl das Einbringen von Plastikmüll ins Meer nach dem Internationalen Umweltübereinkommen "Marpol“ streng verboten ist.
Die "Marpol"-Anlage V regelt die Müllentsorgung an Bord und wurde zum 1. Januar 2013 nochmals verschärft. Doch die Seeleute wissen, dass sie kaum Gefahr laufen, auf frischer Tat ertappt zu werden. Dazu kommt: Selbst wenn sie bei einer Kontrolle erwischt werden - passiert ihnen nahezu nichts. Denn die dazugehörige "Marpol"-Zuwiderhandlungsverordnung wurde von der Bundesregierung "noch nicht redaktionell angepasst" - sprich: nicht umgesetzt.
Polizei kann Verstöße nicht bestrafen
In der Praxis sieht das dann so aus: Täglich ist etwa die Wasserschutzpolizei im Hamburger Hafen unterwegs. Die Beamten kommen unangemeldet und prüfen, ob die Entsorgung von Schweröl und Müll korrekt erfolgt. Dafür kontrollieren sie das Mülltagebuch, dessen Führung "Marpol“ vorschreibt. Darin muss die Schiffsbesatzung die Entsorgung der Abfälle lückenlos dokumentieren. Die Kontrolle umfasst auch einen Abgleich aller Eintragungen mit den vorgelegten Entsorgungsbelegen.
Die Umsetzung der Verordnung ist eigentlich nur eine Formalie. Zuständig dafür ist das Bundesministerium für Verkehr. Doch bisher ist nichts geschehen. Für ein Interview stand das Ministerium nicht zur Verfügung, teilte gegenüber "Panorama 3" lediglich mit, dass das Rechtsetzungsvorhaben bis Juni 2014 abgeschlossen sein soll. Und so gelangt wohl weiterhin Müll von Schiffen in die Nordsee.
Über 600 Tierarten sind betroffen
Dabei drängt die Zeit, die Situation verschärft sich von Tag zu Tag. Es ist bekannt, dass über 600 Arten von marinen Lebewesen vom Müll betroffen sind - "sei es, weil sie sich darin verheddern, weil sie darin leben oder weil sie den Müll fressen", sagt der Meeresbiologe Richard Thompson von der Universität Plymouth. Längst habe sich der Plastikmüll in allen Meeren des Planeten ausgebreitet. Im Laufe der Zeit fragmentieren die Müllteile immer stärker, bis sie mikroskopisch klein sind - mit fatalen Folgen: Schon heute gelangt dieses Mikroplastik in die Nahrungskette. Und kann damit über kurz oder lang auch zu einer Gefahr für den Menschen werden.