Neues Kita-Gesetz in Schleswig-Holstein: Betreuung um jeden Preis?
Schleswig-Holsteins neues Kita-Gesetz verspricht weniger Ausfälle, mehr Sicherheit und geringere Kosten - bei gleicher Betreuungsqualität. Doch ist das realistisch? Erzieher und Forscher üben Kritik.
Ist eine offene Kita die beste Kita? Diese Frage stellen sich seit Anfang des Jahres nicht nur Eltern, sondern auch Fachkräfte und Leitungen in den Kindertagesstätten im Land. Denn seitdem gilt das neue Kindertagesförderungsgesetz (KiTaG) in Schleswig-Holstein. Vieles sollte damit besser werden - oder zumindest anders.
Die Betreuungsqualität für die Kinder soll gleich bleiben. Eltern sollen sich mehr auf die Öffnungszeiten ihrer Kita verlassen können. Die Kitas sollen weniger Bürokratie erdulden und mehr Arbeit am Kind leisten können. Mehrere Jahre wurde an dem Gesetz gearbeitet. Und es wurde immer wieder kontrovers diskutiert.
Sinkende Betreuungsqualität: Wie der neue Personalschlüssel die Kitas unter Druck setzt
Leitungs- und Verwaltungsaufgaben werden in den neuen Personalschlüsseln mehr berücksichtigt. Ebenso Kräfte, die indirekt bei der Kinderbetreuung helfen, zum Beispiel in der Küche. Damit soll das Personal, das tatsächlich Kinder betreut, entlastet werden. Nach der ersten Krankheitswelle unter den neuen Voraussetzungen klagen nun aber viele Kita-Träger unter vorgehaltener Hand: Das Fachpersonal werde unter den neuen Regeln überbelastet.
Eine tatsächliche Betreuung sei mit der neuen Minimalbesetzung von anderthalb Fachkräften pro Regelgruppe noch weniger zu gewährleisten als mit der alten. Die lag bisher bei zwei Fachkräften pro Regelgruppe. Das Gefühl, Kinder "aufzubewahren", sei damit noch häufiger geworden. Gleichzeitig sei man aber in Rechtfertigungsdruck gegenüber den Eltern gekommen, wenn man schließe - denn auch diese Option liegt nun mehr im Ermessen der Kindertagesstätten.
"Dafür bin ich nicht angetreten." Jörn Blunck, Erzieher

Einer, der aus der Praxis weiß, wie es läuft, ist Jörn Blunck. Seit 22 Jahren bringt der Erzieher Kindern bei, wie die Welt und das Miteinander funktionieren. Aktuell arbeitet er in der Kita "Lollipop" in Altenholz bei Kiel. Schon vor dem Inkrafttreten des neuen KiTaG Anfang des Jahres sei es beim Personal krass gewesen, sagt er. "Aber seitdem ist es noch extremer geworden. Wir brauchen als Minimum noch weniger Leute im Haus für die gleiche Anzahl an Kindern. Die Ausfälle werden dadurch am Ende noch länger." Denn die, die hier die Stellung hielten, wenn die Erkältungswelle rollt, würden danach oft erst richtig lange ausfallen, weil sie völlig leer gearbeitet seien.
"Gute pädagogische Arbeit am Kind ist in solchen Phasen undenkbar. Erst gestern waren wir zu dritt mit fast 50 Kindern - also gerade so im Rahmen des neuerdings vom Gesetz erlaubten. Aber Wechsel dann mal eine Windel." Das sei nur noch Aufbewahrung der Kinder.
Träger sieht Änderungsbedarf
So wie Blunck sieht es auch seine Chefin, Mieke Karnowski. Sie leitet die Kita "Lollipop" des KJSH in Altenholz zusammen mit einer Kollegin. "Meine Mitarbeitenden machen das seit dem 1. Januar wirklich gut. Aber es ist schon eine Vollkatastrophe, das kann man ruhig so sagen." Gemeint ist damit der sinkende Qualitätsstandard in Zeiten der Minimalbetreuung mit nur anderthalb Fachkräften pro Regelgruppe. "Das läuft alles auf dem Rücken der Mitarbeitenden und der Kinder", findet Karnowski. Dabei ist die Kita in Altenholz quasi eine Vorzeige-Kita. Selbst Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) war schon zu Gast.
Betreuungsqualität scheint zu sinken
Viele Kita-Träger wollen noch nicht öffentlich über das neue Gesetz sprechen. Man sammele noch Rückmeldungen aus den Einrichtungen. Doch in allen Gesprächen im Hintergrund wird klar: So richtig zufrieden ist niemand, praktisch überall sieht man einen offensichtlichen Tauschhandel von Quantität in der Öffnungszeit gegen Qualität am Kind. Der Widerstand gegen das Gesetz in seiner jetzigen Form scheint nur pausiert, aber nicht beendet. Mehr Öffnungszeit zum Preis von weniger echter Betreuung ist genau das, was im Vorfeld von Elternverbänden befürchtet wurde.
Verbände üben Kritik: So wirkt sich das neue KiTaG auf Eltern aus

Auch die Landeselternvertretung der Kindertagesstätten sieht die Entwicklungen mit dem neuen Gesetz kritisch. Es sei ein unglaublicher Druck im System, der dazu führe, dass alle leiden, so Izabela Böhm, Vorstand der Landeselternvertretung der Kitas. "Es ist für die Eltern einfach sehr schwierig da noch einen guten Ansatz zu finden. Das Personal in den Kitas ist durch die Belastung genervt. Die Eltern sind genervt, weil sie arbeiten gehen wollen im Wissen, dass ihre Kinder gut betreut werden." Und die, um die es ginge, die Kinder selbst, litten am meisten unter der Situation.
Frühkindliche Bildung im Fokus: Forscher kann Kita-Reform nachvollziehen
Etwas andere Töne kommen aus der Wissenschaft. Bernhard Kalicki forscht im Bereich der frühkindliche Bildung am Deutschen Jugendinstitut und zeigt Verständnis für die Entscheidung der Landesregierung, das neue Gesetz so zu gestalten, wie es nun ist.
"Die Corona-Zeit hat eines ganz klar gezeigt. Die negativen Effekte einer geschlossenen Kita sind für die Kinder immens höher, als ein vermindertes Maß an Betreuungspersonal". Bernhard Kalicki, Professor für frühkindliche Bildung
Die Kinder würden vor allem auch unter- und voneinander lernen. Den Ansatz, die Zuverlässigkeit der Betreuung zu erhöhen, findet er aus Sicht der Forschung also sinnvoll. Allerdings nur, wenn das durch gespartes Personal frei gewordene Geld dann auch im System Kita verbliebe und nicht verschwinden würde. Genau das ist in Schleswig-Holstein aktuell aber der Fall.
Das Land ist klamm, die Kassen sind leer. Eine Finanzierungslücke von 110 Millionen Euro klaffte vergangenes Jahr. Sie wurde nun unter anderem mit dem neuen Gesetz, aber auch Geld von Land und Kommunen geschlossen. Das Vorgehen war einer der Streitpunkte. Dem Vorwurf von zu wenig Geld widerspricht die Landesregierung auf Anfrage: Man gebe 2025 so viel Geld für das System Kita aus, wie nie - 758 Millionen Euro seien es, so Staatssekretär Johannes Albig.
Gleiche Qualität für weniger Geld? Fehlanzeige, sagt die Forschung
"Die Qualität wird in jedem Fall leiden, denn der Fachkraft-Kind-Schlüssel ist ein wichtiger Maßstab der Qualität. Mittel sparen kann also nie das Ziel sein", sagt Kalicki. Frei gewordene Gelder müssten im aktuellen Personalmangel genutzt werden, um neue Fachkräfte zu gewinnen und Aufstiegsmöglichkeiten zu schaffen. Denn "der Erzieherinnen- und Erzieherberuf ist karrieretechnisch eine klassische Sackgasse", so Kalicki.
Landesregierung verteidigt Kita-Reform: "Keine Einbußen bei der Qualität"
Die Landesregierung verteidigt das neue Gesetz. Staatssekretär Johannes Albig sieht auf Nachfrage keine Probleme bei der Einführung des neuen Gesetzes. Vielmehr sei es normal, dass bei einer solchen Änderung an Grundgegebenheiten, wie in diesem Fall dem Betreuungsschlüssel, Unsicherheiten entstünden. "An den zentralen Qualitätsstandards wie Verfügungszeiten, Leitungsfreistellungszeiten, Qualitätsmodell, Fachberatung und einer passenden Fachkraft-Kind-Relation wurde mit dem angepassten KiTaG festgehalten. Einbußen bei der Qualität hat es also nicht gegeben", so Albig. Dem letzten Punkt würden Fachkräfte wie Jörn Blunck aus der Kita Lollipop aber wohl derzeit widersprechen.
Das Ministerium antwortet auf die Frage, warum sich bei Kita-Trägern und Elternverbänden die Berichte über Probleme häufen: "Kurzfristige Personalausfälle" seien schon immer eine große Herausforderung für die Kitas gewesen. Es obliege schon immer den Leitungen der Einrichtungen zu entscheiden, ab wann eine ordnungsgemäße Betreuung nicht mehr aufrecht erhalten werden könne. Die jüngste Erkältungsphase und damit verbundene Engpässe in der Kinderbetreuung sind demnach also erwartbar.
Unmut über Kita-Gesetz wächst - Ministerium sieht keinen Änderungsbedarf
Seit diesem Monat laufen nun die ersten groß angelegten Informationsveranstaltungen durch das Ministerium - zu einem Gesetz, das seit Januar gilt. Eltern, Elternverbände, Fachkräfte und Kita-Träger wirken derzeit nicht so, als wenn sich sich mit dem aktuellen Stand des KiTaG zufrieden geben wollen. Das Ministerium und sein Sprecher wiederum sehen keinen Änderungsbedarf, sondern vor allem ein Defizit an Erfahrung mit den neuen Regelungen. Nur eines ist gewiss: Die nächste Erkrankungswelle mit Personalengpässen in der Kinderbetreuung kommt bestimmt. Spätestens im Herbst.
