Nach Ostsee-Sturmflut: Tauchgang zu den Seegraswiesen
Die Sturmflut an der Ostsee hat an den Küsten des Landes tonnenweise Seegras angespült. Die Unterwasser-Wiesen zählen zu den wichtigsten Lebensräumen des Meeres. Ein erster Tauchgang nach dem Sturm.
"Gehirnfrost" heißt es umgangssprachlich, wenn der Kopf einzufrieren scheint - also zum Beispiel, wenn ein zu kaltes Eis den Gaumen passiert. Oder eben bei der Ankunft am Meeresboden der Ostsee vor Fehmarn (Kreis Ostholstein) an diesem ungemütlichen Novembervormittag. Wassertemperatur: 9 Grad Celsius. "Der Tauchgang heute war nicht ganz einfach, neben der schlechten Sicht ist es vor allem die Kälte am Kopf. Wenn die Kopfhaube mit kaltem Wasser voll läuft, bekommt man Gehirnfrost und der Körper braucht einige Minuten, bis er sich daran gewöhnt", sagt Meeresbiologin Jana Willim.
Forscher: "Teilweise meterhohe Berge Seegras"
Gut zwei Stunden zuvor in Heiligenhafen gehört die Kälte noch zu den kleinsten Problemen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Viel größere Sorgen bereitet ihnen die Ungewissheit über den Zustand der Seegraswiesen am Grund der schleswig-holsteinischen Ostsee. Die Ausfahrt heute auf dem Forschungsschiff Littorina soll erste Antworten auf die Frage liefern, wie sehr die Rekordsturmflut am 20. und 21. Oktober den so wichtigen Pflanzen zugesetzt hat.
"Wir haben nach dem Sturm riesige angespülte Mengen gesehen an den Stränden und Häfen, teilweise meterhohe Berge Seegras. Da machen wir uns natürlich schon Sorgen darüber, wie viele Wiesen zerstört wurden", erklärt Professor Thorsten Reusch vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, während er den Tauchgang vorbereitet. Gleich geht es auf dem Schlauchboot bei unruhigem Wellengang bis auf wenige Kilometer an die Fehmarnsundbrücke heran. Reusch ist der Einsatzleiter dieser Forschungsfahrt.
Seegras ist ein wertvoller CO2-Speicher
Seegraswiesen sind nicht nur ein wichtiger Lebensraum für etliche Tierarten. Ihre Wurzeln dienen als Kohlenstoffdioxid-Speicher mit großer Kapazität. Mehrere Megatonnen CO2 nehmen sie unter dem Boden der Ostsee in Schleswig-Holstein auf einer Fläche von rund 145 Quadratkilometern auf. Das ist 35 mal mehr Absorption als die gleiche Fläche Regenwald.
Auch durch Überdüngung gingen in der Ostsee laut Reusch im vergangenen Jahrhundert 60 Prozent der Seegraswiesen verloren - vor allem, weil die Pflanzen durch das Nährstoffüberangebot zu wenig Licht erreichte. "Die Landwirtschaft hat schon viel getan, aber seit einigen Jahren stagnieren die Einträge leider. Und dann kommt eben die Erwärmung dazu, durch die auch mehr Nährstoffe freigesetzt werden", erklärt Reusch.
Das Ziel: Der Evolution auf die Sprünge helfen
Eigentlich sitzt Jana Willim gerade mit drei weiteren Forschungstaucherinnen auf dem Schlauchboot, um Lösungen für genau dieses Problem zu finden: für das befürchtete Seegras-Sterben durch die Erwärmung der Ostsee. "Ich vermute, dass die Temperaturen hier an der Küste ein bis zwei Grad höher sind als weiter draußen. Um das zu beweisen, haben wir hier an mehreren Standorten Temperatur-Messgeräte, sogenannte Logger, befestigt", sagt Willim. Für ihre Doktorarbeit will sie das hitzebeständigere Seegras vor den Küsten ernten und dort wieder einpflanzen, wo die Wiesen bei Hitzewellen im Sommer noch keine besonders hohen Temperaturen gewohnt sind. Willim möchte also gewissermaßen mit Unterwasser-Gärtnerei der Evolution auf die Sprünge helfen, um den Seegraswiesen das Überleben in Zeiten des Klimawandels zu sichern.
Herausforderung beim Tauchgang: Schlechte Sicht, viel Seegras
Für den heutigen Forschungstrip haben sich die Vorzeichen durch den Sturm allerdings radikal geändert. Wenn sich die Frauen gleich rückwärts aus dem Schlauchboot fallen lassen, wird sich zeigen, wie viel Seegras die Flut überhaupt noch übrig gelassen hat. Am Meeresgrund ist die Sicht schlecht, kaum eine Armlänge weit können die Taucherinnen sehen. Unter Wasser orientieren sie sich an ausgelegten Maßbändern und Bojen. Willim beobachtet ungewöhnlich viel aufgewirbeltes Sediment - wahrscheinlich wegen des Sturms. Aber: Die Wiesen sehen gut aus. "Der Wiese unten sieht intakt aus, so wie wir uns das für diese Jahreszeit vorstellen. Sturmschäden konnte ich keine erkennen, die Pflanzen sind noch gut verwurzelt", berichtet Willim nach dem Auftauchen.
Ein gutes Zeichen, das darauf hindeutet, dass das angeschwemmte Seegras nicht von den Küstenwiesen stammt. "Wir erklären uns das so, dass das Seegras nach dem Sturm über sehr große Flächen angespült wurde - das sah dann an der Küste nach viel aus, aber gefährdet den Bestand nicht, weil es immer nur ein kleiner Anteil der Wiesen war", sagt Thorsten Reusch. Die schlimmsten Befürchtungen haben sich also nicht bestätigt. Langfristig gerettet sind die Seegras-Bestände in Schleswig-Holstein aber noch lange nicht. Für dieses Ziel wird Jana Willim mit ihrem Team noch oft ins kalte Wasser springen müssen.