Messerattacke in Brokstedt: So lief der Tag der Tat ab
Vor dem Angriff von Brokstedt war der mutmaßliche Täter in Kiel. Dort soll er sich auch das Messer besorgt haben, das er später benutzte. In den Regionalzug stieg er offenbar erst in Neumünster. Für die Fahrgäste kam die Attacke ohne Vorwarnung. NDR Schleswig-Holstein zeichnet die Abläufe nach.
Es ist Mittwoch, der 25. Januar 2023, zwischen 10 und 11 Uhr vormittags: Ibrahim A. kommt nach Angaben der Stadt Kiel an einen Infopoint der Zuwanderungsabteilung im Neuen Rathaus. Er will dort seine Fiktionsbescheinigung verlängern, ein Dokument, mit dem Ausländerinnen und Ausländer ein Aufenthaltsrecht nachweisen. Erst wenige Tage zuvor ist Ibrahim A. aus der Haft in Hamburg entlassen worden. Weil er vor seiner Inhaftierung zuletzt in Kiel gemeldet war, wurde ihm laut Hamburger Justizbehörde gesagt, dass er nach seiner Entlassung wieder nach Kiel fahren und sich um die Fiktionsbescheinigung kümmern muss.
Erste Station: Zuwanderungsabteilung Kiel
In der Zuwanderungsabteilung in Kiel spricht Ibrahim A. laut Stadt mit zwei Mitarbeiterinnen. Da er mehr als ein Jahr nicht in Kiel war, ist seine letzte Anschrift in einer Beratungsstelle für Wohnungslose zwischenzeitlich abgemeldet worden. Deshalb können die Mitarbeiterinnen die Bescheinigung nicht sofort verlängern. Sie verweisen ihn an die Zentrale Beratungsstelle für wohnungslose Männer (ZBS). Dort soll er sich für eine Postadresse registrieren und sich danach beim Einwohnermeldeamt anmelden.
Der Kieler Student Erik Hansen (Name von der Redaktion geändert) erinnert sich sehr genau an diesen Tag. Er wird später in dem Zug sitzen, in dem es zur Messerattacke kommt.
Während Ibrahim A. bei den Kieler Behörden vorstellig wird, hat für Erik Hansen ein ganz normaler Tag begonnen. Am Vorabend hat er mit Freundinnen und Freunden einen Geburtstag gefeiert, an diesem Mittwoch will er zu seiner Familie nach Hamburg fahren. "Ich bin aufgewacht, habe gefrühstückt und hatte dann noch einen Job an der Fachhochschule", erinnert er sich.
Zweite Station: Einwohnermeldeamt im Rathaus
Inzwischen ist es 11.15 Uhr: Ibrahim A. geht von der Zuwanderungsabteilung direkt zum Einwohnermeldeamt ins Rathaus. Weil er keine Meldeadresse in Kiel hat und wohnungslos ist, kann sein Anliegen nicht bearbeitet werden, so die Stadt Kiel. Er wird auch dort zur Zentralen Beratungsstelle für wohnungslose Männer geschickt, um sich zunächst anzumelden. Bei dieser Beratungsstelle taucht er nach bisherigen Informationen der Stadt aber nicht auf.
Ibrahim A. wechselte eine Station vor Brokstedt den Zug
Informationen von NDR Schleswig-Holstein zufolge soll Ibrahim A. sich nach seinen Besuchen in der Zuwanderungsabteilung und im Einwohnermeldeamt ein Messer in einem Supermarkt in Kiel besorgt haben. In der Anklage beim Prozess vor dem Landgericht Itzehoe schildert die Staatsanwaltschaft später, dass Ibrahim A. zwischen 13.07 Uhr und 13.16 ein glattes Fleischmesser mit einer 20 Zentimeter langen Klinge entwendet haben soll - laut Anklage in der Absicht, seinem Ärger Luft zu machen, indem er das Messer gegen andere Menschen einsetzt.
Danach begibt er sich zurück zum Bahnhof und steigt in einen ICE in Richtung Hamburg - nach Angaben der Staatsanwaltschaft um 14.07 Uhr. Weil er keine Fahrkarte hat, wird er in Neumünster des Zuges verwiesen. Dort soll er dann gegen 14.45 Uhr in den RE70 gestiegen sein, der nach Brokstedt fährt und in dem sich die Tat ereignet.
Erste Notrufe um 14.56 Uhr
In diesem sitzt auch Student Erik Hansen. "Ich war froh, dass ich den Zug überhaupt bekommen habe", sagt er. Vorher hat er sich in Kiel noch eine Nudel-Box geholt. Im Zug setzt sich der Student zum ersten Mal ins vorderste Abteil allein in einen Vierersitz, hört Musik und Podcasts. Bis Brokstedt ist es für ihn eine ganz normale Zugfahrt.
Währenddessen soll Ibrahim A. bereits wenige Minuten nach der Abfahrt in Neumünster eine 17-Jährige Jugendliche unvermittelt attackiert und mit zahlreichen Messerstiche getötet haben. Ihr zwei Jahre älterer Freund soll noch versucht haben, sie wegzuziehen. Auch er wird mit mehreren Stichen getötet.
Um 14.56 Uhr gehen laut Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) dann die ersten Notrufe ein. Als der Zug in Brokstedt am Bahnhof anhält, sieht Erik Hansen durch das Fenster Leute am Zug vorbeirennen. "Wir wussten nicht, was los ist", sagt er. "Aber man hat schon an den Gesichtern gesehen, dass das nicht ist, weil die noch den Bus kriegen wollen oder so." Eine Frau, die erst in Brokstedt einsteigt, ahnt ebenfalls nichts von den Ereignissen im Zug und wird noch im Eingangsbereich vom Täter angegriffen.
Augenzeuge: "Ich habe das Messer gesehen und bin sofort gerannt"
Wenig später betritt der Täter das Abteil, in dem Hansen sitzt. Der Student dreht sich um und sieht ihn die Treppe hochkommen. "Ich habe nur geschrien: Er hat ein Messer, raus, raus!", erinnert Erik Hansen sich. "Ich habe das Messer gesehen und das Blut und bin sofort gerannt." Währenddessen sticht der Täter laut dem Studenten ohne Vorwarnung auf einen der anderen Fahrgäste ein.
Auf dem Bahnsteig angekommen, ruft Erik Hansen die Polizei an. Gleichzeitig sollen andere Reisende einen verletzten Mann versorgt haben, auch der Täter sei kurzzeitig außen am Zug vorbeigelaufen und dann wieder eingestiegen. "Das war ein Durcheinander", sagt Student Hansen. "Es fühlte sich ewig an, bis die Polizei kam." Als die Einsatzkräfte eintreffen, sollen mehrere Fahrgäste den Täter überwältigt und festgehalten haben.
"Keiner konnte es so richtig fassen"
Auch Rettungskräfte treffen ein, die Verletzten werden in Krankenhäuser gebracht. Ihre Verletzungen sind zum Teil lebensgefährlich. In Brokstedt haben mehrere Geschäfte unter anderem eine Bäckerei und ein Gasthof ihre Türen für die Fahrgäste des Zuges geöffnet. "Nach der Tat waren alle Zeugen ja noch in diesem Gasthof und alle haben erzählt, was sie gesehen haben, aber keiner konnte es so richtig fassen", berichtet Erik Hansen. Die Polizei und Mitarbeitende der Bahn nehmen die Personalien aller Anwesenden auf, Kriminalbeamte führen erste Befragungen durch. Hansen erinnert sich: "Ich war noch ungefähr drei Stunden da, das hat sich wie eine Ewigkeit angefühlt." Schließlich holt sein Vater ihn ab.
Inzwischen hat Erik Hansen begonnen, das Geschehene zu verarbeiten. Es habe ihm gut getan, mit Familie und Freunden über das Erlebte zu sprechen, sagt er. Er sei vor allem dankbar, dass ihm nichts passiert sei.