Der Weg nach Brokstedt: Chronik der Ereignisse vor der Tat
Ibrahim A. kam 2014 nach Nordrhein-Westfalen. Er war mehrfach auffällig, galt aber nicht als gefährlich oder als Intensivtäter. Die Behörden wurden aufmerksam, Informationen wurden jedoch zum Teil nicht ausgetauscht.
Nordrhein-Westfalen: Asylverfahren und erste Straftaten
24. Dezember 2014: Ibrahim A. reist nach Deutschland ein. Er gibt an, staatenloser Palästinenser aus dem Gazastreifen zu sein. Die Staatenlosigkeit wird jedoch nicht offiziell festgestellt. Daher gilt seine Staatszugehörigkeit als ungeklärt. Ibrahim A. ist zunächst im Kreis Euskirchen in Nordrhein-Westfalen gemeldet, zuständig ist die Ausländerbehörde Euskirchen.
22. Januar 2015: Ibrahim A. stellt in Deutschland einen Asylantrag.
12. Juli 2016: Der Asylantrag wird abgelehnt, Ibrahim A. wird jedoch subsidiärer Schutz gewährt. Dieser greift, wenn Menschen Gründe vorbringen können, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ernsthafter Schaden droht, aber weder der Flüchtlingsschutz noch das Asyl gewährt werden können. Zu diesem Zeitpunkt soll in Nordrhein-Westfalen bereits ein Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung laufen.
26. Juli 2016: Ibrahim A. wird wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr verurteilt. Ein Vertreter des Bundesministeriums für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wird später im Innen- und Rechtsausschuss des Landtags Schleswig-Holstein feststellen, dass der subsidiäre Schutz mutmaßlich nicht gewährt worden wäre, wenn das BAMF von dem Strafverfahren gewusst hätte.
2015-2020: Ibrahim A. lebt im Raum Euskirchen. Insgesamt gibt es während seiner Zeit in Nordrhein-Westfalen etwa 20 Strafverfahren, drei Mal wird er rechtskräftig verurteilt: Neben der Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung bekommt er zwei Geldstrafen wegen Diebstahls (2015) und eines Drogendeliktes (2018).
1. Dezember 2020: Das Bürgerbüro Euskirchen meldet den Wegzug von Ibrahim A. der Ausländerbehörde Euskirchen.
23. März 2021: In Euskirchen wird für Ibrahim A. eine Postanschrift in einer Einrichtung für Wohnungslose bestätigt.
Kiel: Rücknahmeverfahren wird angeregt
2. Juli 2021: Ibrahim A. meldet sich erstmals in der Stadt Kiel. Er ist zunächst in der Kaistraße gemeldet, später wird er in einer Unterkunft für Geflüchtete in der Arkonastraße untergebracht.
8. Juli 2021: Die Zuwanderungsabteilung Kiel führt eine Abfrage im Bundeszentralregister durch. Das ist in Kiel Standard, wenn eine Person erstmals bei der Zuwanderungsabteilung aufgenommen wird. Aus dem Auszug gehen die drei Verurteilungen in Nordrhein-Westfalen hervor.
22. Juli 2021: Aufgrund der im Bundeszentralregister vermerkten Straftaten bittet die Zuwanderungsabteilung Kiel das BAMF, ein Rücknahmeverfahren zu prüfen, um Ibrahim A. möglicherweise den Schutzstatus entziehen zu können.
18. August 2021: Die Zuwanderungsabteilung Kiel fordert vom Kreis Euskirchen die Akten über Ibrahim A. an.
4. Oktober 2021: Die Akten aus Euskirchen kommen bei der Zuwanderungsabteilung Kiel an.
21. Oktober 2021: Für Ibrahim A. wird die Fiktionsbescheinigung, mit der Ausländerinnen und Ausländer ein Aufenthaltsrecht in Deutschland nachweisen, von der Zuwanderungsabteilung Kiel verlängert.
19. November 2021: Nach vorheriger Prüfung leitet das BAMF ein Widerrufs- und Rücknahmeverfahren ein, um Ibrahim A. den subsidiären Schutz zu entziehen.
19. November, 23. November und 17. Dezember 2021: Das BAMF verschickt Schreiben an Ibrahim A., um ihm im Rahmen des Verfahrens eine Anhörung zu gewähren. Beim BAMF liegen zu diesem Zeitpunkt drei verschiedene Anschriften in Kiel vor: Kaistraße, Arkonastraße und Fleethörn. Die Zustellversuche scheitern, weil Ibrahim A. an den angegebenen Anschriften nicht mehr wohnt oder die Post nicht abholt.
29. November 2021: Ibrahim A. erhält Hausverbot in der Gemeinschaftsunterkunft in der Arkonastraße, weil er mehrfach gegen die Hausordnung verstoßen hat, Mitbewohnende belästigt und bedroht sowie mit einem Messer hantiert haben soll. Er meldet sich wenige Tage später in der Zentralen Beratungsstelle für wohnungslose Männer (ZBS) in der Fleethörn und bittet um eine Notunterkunft. Ihm wird ein Platz in einer Container-Unterkunft angeboten, den er aber nicht annimmt.
14. Januar 2022: Ibrahim A. holt letztmalig seine Post in der ZBS in Kiel ab.
Hamburg: Gefährliche Körperverletzung und U-Haft
18. Januar 2022 Ibrahim A. verletzt in Hamburg vor einer Einrichtung für Wohnungslose einen anderen Mann. Laut dem späteren Urteil springt A. dem Mann auf den Rücken, schlägt ihn mit der Faust und sticht mehrfach mit einem Klappmesser auf ihn ein. Dabei werden unter anderem eine Sehne und eine Arterie durchtrennt.
20. Januar 2022: Ibrahim schlägt an einer Drogenhilfeeinrichtung in Hamburg einer anderen Person mit dem Griff eines Messers auf den Hinterkopf.
21. Januar 2022: Gegen Ibrahim A. wird Haftbefehl wegen zweifacher gefährlicher Körperverletzung erlassen und er kommt in die Justizvollzugsanstalt Billwerder. Am selben Tag kontaktiert laut Hamburger Justizbehörde die Polizeieinheit GERAS, die sich mit ausländischen Straftätern befasst, die Zuwanderungsabteilung Kiel per E-Mail. Dort liegt diese E-Mail nach Angaben der Stadt nicht vor. Außerdem informiert die Hamburger Staatsanwaltschaft automatisiert die Hamburger Ausländerbehörde. Das BAMF kontaktiert sie nicht, weil laut Justizbehörde der im Januar 2022 in den Akten befindliche Auszug aus dem Ausländerzentralregister keine Auskunft über einen ausländerrechtlichen Status des Beschuldigten ergab, aufgrund dessen das notwendig gewesen wäre.
21. Januar 2022 - 19. Januar 2023: Ibrahim A. sitzt in Hamburg in U-Haft. Währenddessen ist er laut Justizbehörde auffällig, provoziert und beschimpft andere Häftlinge sowie Justizvollzugsbedienstete, es kommt auch zu körperlichen Auseinandersetzungen. Ibrahim A. hört Stimmen und Klopfen. Übermäßig aggressiv und gewalttätig soll er laut Justizbehörde aber nicht gewesen sein. Psychiater stellen bei mehreren Terminen keine Anzeichen für Selbst- oder Fremdgefährdung fest, auch wird er nicht als Gefahr für die Allgemeinheit oder als unzurechnungsfähig eingeschätzt. In einer Konfliktsituation äußert er Vergleiche zum Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri. Es habe jedoch keine Hinweise auf eine extremistische Einstellung gegeben, so die Hamburger Justizbehörde.
Stockender Informationsfluss zwischen Hamburg und Kiel
22. Januar 2022: Die Hamburger Innenbehörde kontaktiert die Zuwanderungsabteilung Kiel. In Kiel ist dieser Kontaktversuch nicht bekannt.
10. Februar 2022: Die Ermittlungseinheit GERAS schreibt laut Justizbehörde erneut eine E-Mail an die Zuwanderungsabteilung Kiel. Auch diese ist in Kiel nicht bekannt.
1. März 2022: Die Ermittlungseinheit GERAS schreibt nach Angaben der Justizbehörde eine weitere E-Mail an eine andere Adresse der Zuwanderungsabteilung Kiel.
9. März 2022: Eine Sachbearbeiterin der Zuwanderungsabteilung Kiel beantwortet die E-Mail von GERAS, informiert die Ermittlerinnen und Ermittler nach Angaben der Stadt über das laufende Rücknahmeverfahren und stellt weitere Nachfragen. Die Antwort aus Kiel wird auch dem BAMF weitergeleitet. Dabei geht es noch nicht darum, dass Ibrahim A. in U-Haft sitzt.
10. März 2022: Die Hamburger Ermittlerinnen und Ermittler antworten der Justizbehörde auf die E-Mail aus Kiel und teilen mit, dass Ibrahim A. in U-Haft sitzt. Diese Information wird in Kiel offenbar übersehen, die E-Mail wird erst in einer internen Recherche nach der Tat wiedergefunden.
14. März 2022: Dem BAMF wird nach eigenen Angaben ein E-Mail-Verkehr zwischen der Polizei Hamburg und der Zuwanderungsbehörde Kiel übermittelt. Dieser enthält laut BAMF keine Hinweise auf eine U-Haft oder den Strafvorwurf.
25. März 2022: In Kiel wird die Adresse von Ibrahim A. in der ZBS aufgrund längerer Abwesenheit abgemeldet.
7. April 2022: Ibrahim A. versäumt einen Termin in Kiel, weshalb seine Fiktionsbescheinigung nicht verlängert wird.
4. Mai 2022: Weil die Fiktionsbescheinigung abgelaufen ist, kontaktiert der Ausländerberater der JVA Billwerder die Zuwanderungsabteilung Kiel. Die JVA will eine Drogentherapie vorbereiten und braucht dafür die Bescheinigung.
6. Mai 2022: Die Zuwanderungsabteilung Kiel beantwortet die Anfrage des Ausländerberaters und stellt weitere Nachfragen. Unter anderem geht es darum zu klären, ob die Zuwanderungsbehörde Kiel noch für Ibrahim A. zuständig ist, wenn dieser sich nun überwiegend in Hamburg aufhält. Außerdem will die Zuwanderungsabteilung wissen, seit wann Ibrahim A. in U-Haft sitzt. Nach Angaben der Hamburger Justizbehörde erfolgte noch am selben Tag eine Antwort, mit der auch das Vollstreckungsblatt übermittelt wurde. Diese Antwort wird in Kiel erst nach der Tat wiedergefunden.
18. August 2022: Das Hamburger Amtsgericht St. Georg verurteilt Ibrahim A. wegen der Körperverletzung und eines Ladendiebstahls zu einer Haftstrafe von einem Jahr und einer Woche. Er legt Rechtsmittel ein und bleibt daher in U-Haft.
24. Oktober 2022: Die vorsitzende Richterin am Landgericht Hamburg wendet sich laut der Hamburger Justizbehörde an die Zuwanderungsabteilung Kiel, um für das Berufungsverfahren den Aufenthaltsstatus zu erfragen. Es erfolgt keine Antwort. In Kiel ist dieser Kontaktversuch nicht bekannt.
22. November 2022: Die JVA Billwerder wendet sich laut Justizbehörde erneut wegen der abgelaufenen Fiktionsbescheinigung an die Zuwanderungsabteilung Kiel. Diese teilt den Angaben zu Folge mit, dass Ibrahim A. sich nach seiner Haftentlassung in Kiel um das Dokument kümmern muss. Dies wird auch A. und seinem Anwalt mitgeteilt.
Nach der U-Haft wieder nach Kiel
19. Januar 2023: Das Landgericht Hamburg hebt den Haftbefehl gegen Ibrahim A. auf, weil dieser sich zu diesem Zeitpunkt bereits knapp ein Jahr in U-Haft befindet und damit die im ersten Urteil verhängte Strafe fast abgesessen hat. Auch in einem Berufungsverfahren hätte keine höhere Strafe ausgesprochen werden können. Ibrahim A. wird laut Justizbehörde erneut darauf hingewiesen, dass er sich in Kiel wegen seiner Fiktionsbescheinigung melden soll. Nach der Haftentlassung kommt er im Winternotprogramm der Stadt Hamburg an.
23. Januar 2023: Ibrahim A. nimmt ein Perspektivgespräch der Wohnungsberatung Hamburg wahr.
25. Januar 2023: Ibrahim A. spricht zwischen 10 und 11 Uhr am Infopoint der Zuwanderungsabteilung Kiel vor, um seine Fiktionsbescheinigung zu verlängern. Dafür muss zunächst sein Aufenthalt in Kiel geklärt werden. Dafür wird A. zur ZBS geschickt, danach soll er sich mit dieser Adresse beim Einwohnermeldeamt anmelden. A. geht direkt zum Einwohnermeldeamt und hat dort gegen 11.15 Uhr Kontakt mit einem Mitarbeitenden. Da er keine Meldeadresse in Kiel hat, wird er erneut zur ZBS geschickt. Dort taucht der nach bisherigem Kenntnisstand nicht auf. Nach Informationen von NDR Schleswig-Holstein soll sich Ibrahim A. in einem Supermarkt in Kiel ein Messer beschafft haben. Später steigt er in Kiel in einen ICE in Richtung Hamburg. Weil er keine Fahrkarte hat, wird er in Neumünster des Zuges verwiesen. Dort soll er dann in den RE70 gestiegen sein, in dem sich wenig später die Tat ereignet.