Lübeck: Ein Schädel bekommt Namen und Menschlichkeit zurück

Stand: 11.10.2024 18:35 Uhr

In Lübeck wurden die sterblichen Überreste eines Mannes aus der indigenen Gemeinschaft der Selk'nam an eine Delegation aus Feuerland übergeben. Die Herkunft konnte erst 2022 festgestellt werden.

von Selma Zoronjić

Mit der feierlichen Rückgabe der sterblichen Überreste eines Mannes aus der indigenen Gemeinschaft der Selk'nam an eine Delegation aus Feuerland in Chile wollen die Lübecker Museen zu Kolonialzeiten geschehenes Unrecht aufarbeiten. Die Herkunft des Schädels war lange unklar - bis die Lübecker "Sammlung Kulturen der Welt" sie im Rahmen einer mit Mitteln des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste finanzierten Provenienzforschung ermitteln konnte: Ein deutscher Auswanderer in der chilenischen Stadt Punta Arenas hatte den Schädel im Jahr 1914 dem damaligen Lübecker Völkerkundemuseum geschenkt.

2023 besuchte eine Delegation der Selk'nam im Zuge der Ausstellung "Hoffnung am Ende der Welt" Lübeck und gab dem Verstorbenen den Namen Hoshkó. Auf diese Weise wollen ihn seine Nachfahren wieder als Person würdigen, dem anonymen Museumsstück die Menschlichkeit zurückgeben. Auch deshalb wird der Schädel nicht gezeigt - auch bei der heutigen Übergabe blieb er vor den Blicken verborgen.

Die sichtlich berührte Delegation aus Feuerland dankte "all diejenigen, die ihr Gesicht zeigen und Verantwortung übernehmen". Dies seien Menschen, "die das historische Wissen und die Sensibilität besitzen, um in irgendeiner Art und Weise den Schmerz zu reparieren", sagt Herma'ny Molina, Sprecherin der Selk'nam.

Ein kleines Stück Wiedergutmachung für historisches Unrecht

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Selk'nam, die indigene Bevölkerung Feuerlands, massenhaft vertrieben und ermordet worden. Europäische Einwanderer beanspruchten ihr Land, um es als Weidefläche zu nutzen und Wolle für die Textilindustrie zu produzieren. Professionelle Menschenjäger verübten Massaker an den Selk'nam. Viele starben an von Europäern eingeschleppten Krankheiten. Gleichzeitig wuchs, beeinflusst durch die Schriften von Charles Darwin, das wissenschaftliche Interesse an den Indigenen.

Wie Tiere gejagt, in Zoos ausgestellt

Gebeine der Selk'nam galten als wertvolles Studienobjekt für die physische Anthropologie, da man sie als die "primitivsten Menschen der Erde" ansah. Trotz des Widerstands der Überlebenden wurden Gräber geöffnet, und Schädel sowie Knochen an Museen auf der ganzen Welt verschickt. Darüber hinaus wurden Selk'nam in deutschen Zoos im Rahmen von Völkerschauen ausgestellt. Mit der Zeit galten die Selk'nam als ausgestorben, doch 2023 wurden sie von der chilenischen Regierung wieder offiziell als indigene Gemeinschaft anerkannt.

Hoshkó bleibt vorerst in Lübeck

Heimkehren nach Feuerland darf Hoshkó allerdings nicht, denn die chilenische Politik würde dafür sorgen, so Selk'nam-Sprecherin Herma'ny Molina, dass "nicht immer alles so geschieht, wie die Völker es wollen". Beerdigt werden sollen die sterblichen Überreste deshalb in Lübeck. Für eine Überführung gebe es bürokratische Hürden, sagt Dr. Lars Frühsorge, Leiter der Sammlung. Nach chilenischem Recht finde eine Rückgabe über ein Kultusminsterium statt, "die Gemeinschaft der Selk'nam hingegen wünscht, dass eine Rückgabe direkt und unmittelbar und mit dem Ziel einer Bestattung in heimischer Erde durch die Gemeinschaft passieren soll." Das sei nach aktuellem chilenischen Recht nicht möglich. So sei der Wunsch der Selk'nam entstanden, eine Bestattung in Lübeck durchzuführen. Sollte sich die Rechtslage ändern, könne Hoshkó nach Feuerland überführt werden.

Völkerkunde - heute eine selbstkritische Wissenschaft

Die "Sammlung Kulturen der Welt" ist eines der ältesten ethnologischen Museen Deutschlands - auch, wenn sie im Moment kein eigenes Ausstellungshaus hat. Die Sammlung umfasst rund 30.000 Objekte aus aller Welt. Erst im März 2024 hatte die Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck beschlossen, die "Völkerkundesammlung" in "Sammlung Kulturen der Welt" umzubenennen. Initiator war Sammlungsleiter Dr. Lars Frühsorge. Der vom Kolonialismus geprägte Begriff "Völkerkunde" sei nicht mehr zeitgemäß, so der leitende Direktor der Lübecker Museen, Dr. Tilmann von Stockhausen. Die Sammlung verstehe sich heute als ein "selbstkritischer Spiegel globaler Beziehungen und kultureller Vielfalt der Welt".

Hoshkó ist nicht der einzige Fall dieser Art. In der "Sammlung Kulturen der Welt" befinden sich sterbliche Überreste von 25 Personen. Ein Großteil dieser Überreste wurde zu Zeiten des Kolonialismus nach Lübeck gebracht. Ihre Herkunft konnten die Lübecker Wissenschaftler im Rahmen der Proveniezenzforschung ebenfalls ermitteln.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 13.10.2024 | 19:30 Uhr

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