Kreidezähne bei Kindern: Wenn der Zahnschmelz zu weich ist
Acht Prozent aller Sechs- bis Zwölfjährigen in Deutschland leiden unter einer Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) - auch Kreidezähne genannt. Wir haben ein Mädchen bei der Behandlung im UKSH in Kiel begleitet.
Routiniert nimmt Charlotte Henkel auf dem Stuhl im hellen Behandlungszimmer der sogenannten Zahnerhaltung im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) in Kiel Platz. An der Decke hängt ein Monitor, auf dem eine Kinderserie läuft. Neben dem obligatorischen Papierlätzchen bekommt die Achtjährige außerdem einen "Zauberstab" in die Hand. In dem bunt bemalten und mit Flüssigkeit gefüllten Röhrchen schweben viele kleine Glitzerteilchen. Charlottes Aufgabe: den Elefanten und den gepunkteten Hund im Glitzerschwarm finden. Das soll sie ablenken von der Behandlung in ihrem Mund, die sie wegen der Diagnose Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) benötigt. Geläufiger als die drei Buchstaben MIH ist vielen der Begriff: Kreidezähne.
Typisch sind gelbliche Verfärbungen an Zähnen
Auf den ersten Blick sind die Zähne der Achtjährigen aus Karby (Kreis Rendsburg-Eckernförde) nicht besonders auffällig. Doch bei geöffnetem Mund sind gelbliche Verfärbungen an den Spitzen der unteren Schneidezähne zu sehen, ein typisches Symptom der MIH, den sogenannten Kreidezähnen, sowie pinke Füllungen auf Backenzähnen. Heute bekommt Charlotte zwei weitere Spezial-Füllungen. Mit leiser, ruhiger Stimme erklärt Zahnärztin Malin Sucherlan, was sie als nächstes genau macht. Mutter Judith sitzt hinter ihrer Tochter und greift immer wieder nach vorne, um Charlottes Kopf zu streicheln.
MIH-Symptome: Kälte- und Druckempfindlichkeit
Seit Charlotte zweieinhalb Jahre alt ist, gehören häufige Zahnarztbesuche zu ihrem Alltag. Zeitweise muss sie wöchentlich zur Untersuchung oder Behandlung, manchmal liegen ein paar Monate zwischen den Terminen. An einigen Tagen geht es ganz schnell und weitestgehend schmerzfrei, an anderen nicht. Doch auch wenn es manchmal ganz schön weh tut, geht Charlotte gerne zum Zahnarzt. Denn hinterher gehe es ihr immer besser, erzählt sie.
Der Zahnschmelz der Achtjährigen ist deutlich weicher als er eigentlich sein müsste. Ihre Zähne sind dadurch viel empfindlicher für Wärme, Kälte und Druck. Schon das Zähneputzen kann so zur Qual werden. "Die Zellen, die verantwortlich sind für die Schmelzbildung, sind geschädigt", erklärt Sucherlan. Durch die Störung ist der Schmelz auch rauer, sodass sich Karies leichter absetzen und die Zähne weiter schädigen kann. "Die Kinder können da gar nichts für und der Leidensdruck ist sehr hoch", sagt Sucherlan.
Laut dem Barmer Zahnreport 2021 leiden durchschnittlich acht Prozent aller Sechs- bis Zwölfjährigen in Deutschland unter Kreidezähnen. Bei den Zwölfjährigen ist sogar fast jedes dritte Kind betroffen. Ein Großteil davon sind aber leichte Fälle. Die Störung betrifft Schneide- und Backenzähne.
Das Kind verweigert irgendwann fast das Essen
Zunächst sind es vor sechs Jahren gelbliche Verfärbungen an den Zähnen, die Charlottes Mutter auffallen. Auch durchs Putzen gehen sie nicht weg. "Wir waren regelmäßig beim Zahnarzt und da war alles in Ordnung. Charlotte habe nicht so gute Zähne, wurde mir immer gesagt", erinnert sich Judith Henkel. Irgendwann beginnt Charlotte freiwillig auf alle Süßigkeiten zu verzichten. Als sie dann fast gar nicht mehr essen möchte, schrillen bei Mutter Judith alle Alarmglocken.
Ihre reguläre Zahnärztin weiß schnell nicht mehr weiter und überweist die Familie an eine Kollegin. Die schlägt beim Anblick von Charlottes Zähnen die Hände über dem Kopf zusammen und schickt sie umgehend in das UKSH in Kiel. Dort, über zwei Jahre später, hört die Familie zum ersten Mal von Kreidezähnen.
Drei Zähne von Charlotte sind da allerdings schon zu stark von Karies zerstört und müssen gezogen werden. Direkt nach der Operation fängt das Mädchen wieder an zu essen. Sie kann ihre Zähne wieder schmerzfrei putzen und im Sommer isst sie auch wieder ab und zu ein Eis. Ihre Mutter ist erleichtert.
Seitdem fährt Judith Henkel ihre Tochter regelmäßig die 35 Kilometer von Karby nach Kiel. Durch die Unterstützung der Ärzte hat Charlotte die Krankheit mit acht Jahren wieder so weit im Griff, dass sie sich in ihrem Alltag nicht eingeschränkt fühlt. Nur die Angst im Hinterkopf bleibt, dass nach jedem kleinen Schmerz im Mund wieder ein größerer Eingriff folgen muss.
Ursache von Kreidezähnen noch nicht geklärt
Wodurch genau die Schmelzbildung bei der Diagnose MIH gestört wird, ist noch nicht geklärt. Irgendwann zwischen den letzten Schwangerschaftsmonaten und den ersten Lebensjahren gibt es einen Reiz, der die Zellen schädigt, sodass sich der Zahnschmelz nicht regulär ausbilden kann, erklärt Sucherlan: "Es werden Weichmacher im Plastik diskutiert, es werden Medikamentengaben diskutiert. Es können respiratorische Erkrankungen das Geschehen beeinflussen. Man tappt da nach wie vor im Dunkeln. Neuerdings werden auch genetische Faktoren näher beleuchtet."
Bei leichteren Ausprägungen der Störung können größere Schäden durch das Versiegeln der Zähne und spezielle Putzgels verhindert werden. "Man kann nicht pauschal sagen, wie das am besten zu therapieren ist, sondern es ist immer eine individuelle Entscheidung", sagt Sucherlan. Im schlimmsten Fall müssen betroffene Zähne gezogen werden. Heilbar oder durch Prävention vermeidbar ist die Störung nicht.
Nach der Behandlung fühlen sich die Zähne besser an
Nach rund zehn Minuten ist die heutige Behandlung beendet. Prüfend fährt Charlotte mit der Zunge über die neuen Füllungen, ob sich noch irgendetwas komisch anfühlt. Alles passt. Vor der Behandlung habe sie einen Riss gespürt, der sei jetzt weg, sagt die Achtjährige. Dann darf sie sich aus einer Schatzkiste ein kleines Geschenk aussuchen. "Bestimmt wird es wieder ein Tattoo", vermutet Judith Henkel.
Gründlich wühlt Charlotte sich durch das Angebot und nimmt dann einen Tattoo-Sticker aus der Kiste. Ihre Mutter lacht. Dann geht es vom Behandlungsstuhl runter. Wann genau sie wieder hier sein wird, steht noch nicht fest. Sie wird ihrer Mutter Bescheid sagen, wenn sie schon vordem nächsten Prophylaxe-Termin einen neuen Riss oder ein Loch in ihren Zähnen fühlt.
Wie kann man Kreidezähne erkennen?
- Ab dem ersten Milchzahn das Kind mit zur Vorsorgeuntersuchung beim Zahnarzt nehmen
- Auf Verfärbungen, die sich nicht wegputzen lassen, und auf Schmerzempfindlichkeit achten
- Kinder bei Beschwerden über Zahnschmerzen immer ernst nehmen
- bei Verdacht eine Kinderzahnärztin / einen Kinderzahnarzt aufsuchen
Transparenzhinweis: In einer vorherigen Version des Artikels wurde Zahnärztin Malin Sucherlan fälschlicherweise als Dr. Sucherlan bezeichnet. Ebenso stand dort, dass über 30 Prozent aller 12-Jährigen von der MIH betroffen sind. Es sind jedoch 28,7 und somit knapp 30 Prozent.