KZ Stutthof: Auf den Spuren der Sekretärin Irmgard F.
Die heute 95-Jährige muss sich wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen verantworten. Die Staatsanwalt in Itzehoe hat Anklage erhoben. Eine Geschichte über Täter und Opfer.
Die Tatsache, dass Abba Naor in einem Münchner Hotel sitzt und noch seine Lebensgeschichte erzählen kann, ist unwirklich. Und er hätte es damals nie für möglich gehalten, im Sommer 1944, als er mit 15 Jahren aus dem jüdischen Ghetto von Kaunas in Litauen ins Konzentrationslager Stutthof bei Danzig deportiert wurde. Heute ist er 93 Jahre alt. Die Magie des Moments scheint durch ein geschliffenes Wasserglas: Wenn Abba Naor es an den Mund setzt und bedächtig einen Schluck trinkt, wirkt es, als sei das Glas mit dem Wasser das Leben selbst.
Jeden Tag den Tod vor Augen
Was hat er damals vom Leben erwartet? "Den Tod." Pause. "Jeden Tag." Pause. "Das einzige, worum wir uns gekümmert haben war, nicht geschlagen zu werden und ob wir irgendwo etwas zu essen finden können. Alles andere hat uns nicht interessiert." Stille.
Das Schweigen der Irmgard F.
In einem Pflegeheim in Quickborn lebt eine sehr alte Frau, die auch ihren Teil dieser Geschichte erzählen könnte, wenn sie wollte. Aber sie will nicht. Irmgard F. ist 95 Jahre alt, gemessen an ihrem Alter aber wohl bei guter Gesundheit. Es ist gut möglich, dass F. und Naor sich damals in Stutthof begegnet sind, unter gänzlich anderen Vorzeichen: sie auf der Seite der absoluten Macht, er unter den Todgeweihten.
Irmgard F. war die Stenotypistin des Lagerkommandanten Paul-Werner Hoppe. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft Itzehoe sie angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen. "Sie soll den Verantwortlichen des Konzentrationslagers Hilfe bei der systematischen Tötung von Gefangenen geleistet haben", sagt Peter Müller-Rakow, Sprecher der Staatsanwaltschaft. "Es ging dabei um jüdische Gefangene, polnische Partisanen und sowjetische Kriegsgefangene." Zum Kriegsende muss das Konzentrationslager Stutthof ein höllischer Ort von Hunger, Krankheit und Gewalt gewesen sein. Irmgard F. hat das alles erlebt. Sie sagte bereits zweimal als Zeugin zu ihrer Rolle in Stutthof aus, in den Jahren 1954 und 1962. Jetzt ist sie selbst Angeklagte, lebt in einem gelblich getünchten Heim nahe der Autobahn - und schweigt.
Von der Dresdner Bank ins Konzentrationslager
Geboren wurde Irmgard F. im damaligen Kalthof (heute Kaldowo) bei Danzig. Nach Recherchen von NDR Schleswig-Holstein machte sie nach der Schule eine Ausbildung bei der Dresdner Bank im damaligen Marienburg (heute Malbork). "Die Dresdner Bank war die Hausbank der SS," erklärt Christoph Rückel. Der Münchner Anwalt vertritt seit Jahren Holocaust-Überlebende in Prozessen gegen ehemalige KZ-Mitarbeiter. "Die SS hat den gesamten Zahlungsverkehr ihrer Wirtschaftsbetriebe in den Konzentrationslagern über die Dresdner Bank abgewickelt." Es ist wahrscheinlich, dass Irmgard F. schon in ihrer Zeit bei der Bank über das System im KZ Stutthof Bescheid gewusst hat, zumal aus ihrem engeren Umfeld viele in Stutthof gearbeitet haben. 1943, als die Wehrmacht immer größere Verluste erlitt, musste die Dresdner Bank ihre Filiale in Marienburg schließen, um mehr Arbeitskräfte für den Krieg freizusetzen. Auch Irmgard F. verlor so ihre Stelle bei der Bank und wechselte in das Konzentrationslager Stutthof. "Sie hat für den Lagerkommandanten die gesamte Korrespondenz erledigt," sagt Christoph Rückel, "sie hat auch die Deportations-und Exekutionsbefehle für ihn abgetippt und mit ihrem Kürzel abgezeichnet. Das hat sie selbst zugegeben."
Der letzte Abschied am Zaun
Sehr wahrscheinlich wird sie den Befehl gesehen haben, am 26. Juli 1944 1.900 Frauen und Kinder von Stutthof in das Vernichtungslager Auschwitz zu deportieren. An dem Morgen dieses Tages stand Abba Naor an dem Zaun, der das Frauenlager vom Männerlager trennte. "Ich habe meine Mutter noch gesehen, sie hatte meinen Bruder auf dem Arm. Ich wusste sofort, dass dies der letzte Abschied ist." Jeden Morgen beim Aufwachen würden seine Mutter Chana und sein Bruder Berale vor seinem inneren Auge erscheinen, erzählt er. "Schade, dass das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli nicht geklappt hat. Dann hätten sie leben können." So aber hat niemand den Transport vom 26. Juli überlebt. Und Irmgard F., so wirft es ihr die Staatsanwaltschaft Itzehoe vor, war ein Rädchen in dem System, das dieses Unrecht möglich gemacht hat.
Ist der Prozess eine Frage der Gerechtigkeit?
"Wie alt ist sie, 95?", fragt Abba Naor. "Man soll sie in Ruhe sterben lassen. Sie hat mit dieser Geschichte 60 Jahre oder mehr gelebt. Das ist eine Strafe, schlimmer als Gefängnis." Vor 60 Jahren hätte der Prozess stattfinden müssen, findet Abba Naor, "jetzt ist es zu spät." Christoph Rückel sieht das anders: "Mord verjährt nicht, Beihilfe zum Mord auch nicht. Wenn wir ein Verbrechen haben und eine Verdächtige, dann kann der Rechtsstaat nicht darüber hinwegsehen." Auch der Verteidiger von Irmgard F., der Kieler Anwalt Wolf Molkentin meint, dass "jede Vorführung dieser ungeheuren Verbrechen und die Aufarbeitung der Strukturen dahinter letztlich der Gerechtigkeit dienen." Wenn es die Gesundheit von Irmgard F. zulässt, könnte der Prozess gegen sie noch im Spätsommer beginnen. Und sollte sie verurteilt werden, dann nach dem Jugendstrafrecht, denn sie war in ihrer Zeit in Stutthof erst 19 Jahre alt.
Abba Naor könnte als Nebenkläger in dem Verfahren gegen Irmgard F. auftreten, aber er möchte nicht. Er erlebte das Kriegsende im Konzentrationslager Dachau, wurde von den Amerikanern befreit und hat später in Israel ein neues Leben angefangen. Seit 25 Jahren kehrt er immer wieder nach Bayern zurück, um deutschen Schulkindern aus seinem Leben zu erzählen. Das ist ihm wichtiger.