Streit um Gutachten im Prozess gegen Sekretärin des KZ Stutthof
Im Verfahren gegen eine ehemalige Sekretärin des KZ Stutthof vor dem Landgericht Itzehoe gibt es nach NDR Informationen Streit. Es geht um ein medizinisches Gutachten zur Verhandlungsfähigkeit der Beschuldigten.
Die Anklage wirft Irmgard F. Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen vor. Sie war Schreibkraft im KZ Stutthof bei Danzig. Doch noch vor einem möglichen Prozessbeginn gegen die 95-Jährige gibt es Uneinigkeit zwischen den Anwälten von Holocaust-Überlebenden und der zuständigen Jugendkammer am Landgericht Itzehoe. Im Februar hatte der Vorsitzende Richter nach NDR Recherchen eine Vertreterin des Gesundheitsamtes des Landkreises Pinneberg mit der Begutachtung des Gesundheitszustandes beauftragt. Dabei ging es um die Frage, ob F. verhandlungsfähig ist. Denn nur dann kann das Gericht die Anklage der Staatsanwaltschaft zulassen und Verhandlungstermine anberaumen. Üblicherweise begutachten besonders fachkundige Ärzte in solchen Verfahren die hochbetagten Beschuldigten in der Frage der Verhandlungsfähigkeit.
Anwalt kritisiert Wahl der Sachverständigen
Rechtsanwalt Thomas Walther, Vertreter eines Überlebenden des Konzentrationslagers Stutthof, der sich am Prozess als Nebenkläger beteiligen will, hatte das Gericht in einer Stellungnahme aufgefordert, die Begutachtung durch die Amtsärztin zu überdenken. "Für eine solche Untersuchung braucht es eine Expertin oder einen Experten mit entsprechender Praxiserfahrung", sagte Walther dem NDR. Andernfalls könnten weitere Gutachten nötig werden. Auch angesichts der Corona-Pandemie und der besonderen Belastung der Gesundheitsämter sei die Beauftragung einer Ärztin der örtlichen Gesundheitsbehörde problematisch. "Üblicherweise beauftragen Gerichte Spezialisten mit solchen Gutachten, um eine Verzögerung des Verfahrens zu vermeiden", so Walther. Denn bei einem Verfahren gegen eine so betagte Beschuldigte, komme es auf Wochen und Monate an. Immerhin hatte bereits die Staatsanwaltschaft viereinhalb Jahre von Ermittlungsbeginn bis zur Anklageerhebung gebraucht.
Justizministerium hält sich aus dem Streit raus
Dem Landgericht liegt das Gutachten der Amtsärztin inzwischen vor, bestätigt eine Gerichtssprecherin auf NDR Anfrage. Derzeit prüfe die Strafkammer, ob das Gutachten ausreichend sei oder ob weitere Sachverständige angehört werden müssten. Zu der Kritik von Anwälten will sich das Gericht nicht äußern. Ein Nebenklagevertreter hatte in dem Streit um die Sachverständige sogar das Justizministerium in Kiel eingeschaltet. Damit wollte der Anwalt erreichen, dass das Ministerium der Staatsanwaltschaft eine "justizielle Einzelfallweisung" erteilt, damit sich die Staatsanwaltschaft der Kritik an der Sachverständigen anschließt. Das schleswig-holsteinische Justizministerium lehnte dies jedoch ab. "Für eine solche Weisung", sagt ein Sprecher auf NDR-Anfrage, "bestand aus Sicht des Ministeriums keine Veranlassung".
Vorwurf: Beihilfe zum Mord in über 10.000 Fällen
Die Staatsanwaltschaft Itzehoe hatte Irmgard F. Anfang des Jahres wegen Beihilfe zum Mord in 11.430 Fällen sowie Beihilfe zum versuchten Mord in 18 Fällen angeklagt. Die heute 95 Jahre alte Frau war zwischen Juni 1943 und April 1945 Sekretärin des Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig. Laut Anklage soll F. die Morde im KZ durch ihre Tätigkeit als Schreibkraft unterstützt haben.
Prozess könnte im Sommer beginnen
Nach NDR Informationen soll ein möglicher Prozess nicht im Gebäude des Landgerichts Itzehoe stattfinden. In Prozessunterlagen, die der NDR einsehen konnte, kündigt der Vorsitzende Richter an, dass das Verfahren in einer großen Räumlichkeit im Landkreis Pinneberg oder im Kreis Steinburg stattfinden solle. Auch auf einen barrierefreien Zugang will das Gericht achten. Das Gericht erwartet demnach, dass an den Prozesstagen jeweils 70 bis 100 Personen im Saal sein werden - darunter etwa 20 Rechtsanwälte der Nebenklage.
Mammutprozess erwartet
Sollte die Anklage zugelassen werden, würde der Prozess im dritten Quartal, also ab Juli, beginnen können, kündigt das Gericht den Verfahrensbeteiligten gegenüber an. Der Vorsitzende Richter rechnet mit 40 bis 50 Verhandlungstagen. Bei einer eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit der Beschuldigten könnte sich der Prozess bis in den Herbst 2022 ziehen.