Der Massai von Neritz
Als der Massai Upendo Oropi Kinoka im November 2022 aus seiner Heimat Tansania zu seiner Frau nach Schleswig-Holstein zieht, macht er sich Sorgen: Findet er einen Job, bei dem er mit Rindern arbeiten kann? Nun ist er seit einem Jahr der "Kuh-Flüsterer" auf einem Milchviehhof in Neritz.
Er fällt auf hier auf dem Milchviehhof Lienau in Neritz im Kreis Stormarn. Allein schon äußerlich: sehr schlank, sehr groß, mit schwarzer Haut. Wenn Upendo Oropi Kinoka hier um zwei Uhr nachmittags seinen Dienst beginnt, kommt er vom Deutschkurs. Der Liebe wegen ist er vor anderthalb Jahren aus Tansania nach Deutschland gezogen. "Meine Frau ist Floristin", sagt er auf Englisch, sie habe beruflich in Tansania keine Zukunft gesehen. Also hätten sie beschlossen, dass er zu ihr nach Schleswig-Holstein zieht. "Ich habe mir ein bisschen Sorgen gemacht, ob es im Norden genügend Rinder geben würden, damit ich arbeiten kann", sagt er. Aber dann sprach ihn ein fremder Mann auf einem Sportfest an. Und sie kamen ins Gespräch. Der Mann sei Kunde im Hofladen der Familie Lienau in Neritz und so kam der Kontakt zustande. Kurz darauf konnte Upendo Oropi Kinoka auf dem Hof als Hilfsarbeiter anfangen - erst als Praktikant, mittlerweile längst fest angestellt.
Upendo Oropi Kinoka liebt Rinder
Anfangs war vieles neu für ihn: "Unsere Rinder in Tansania essen das, was wächst, nichts anderes." Jetzt füttert er die Kälber, mit Heu und "Müsli", wie er das Kraftfutter nennt. Geduldig lässt er sich von einem Kalb die Finger abschlecken. Er strahlt dabei übers ganze Gesicht. "Wisst ihr", sagt er dann, "ich bin mit ihnen aufgewachsen. Als ich hierher kam und die Rinder-Leute hier getroffen habe, war ich so glücklich, dass ich hier arbeiten kann. Ich liebe es. Ich liebe Rinder."
Wenn er pfeift, kommen die Tiere angelaufen
Jeden Tag holt er mit seiner Chefin Franziska Lienau um 15 Uhr die Kühe von der Weide zum Melken. Er die eine, sie die andere Gruppe. Dann ertönen seltsame Pfeiftöne über der Weide und er läuft mit einer Seelenruhe um die Tiere herum. Es sind unterschiedliche Pfeiftöne mit unterschiedlichen Höhen und Tiefen, die er macht. Ungewohnt für deutsche Ohren. Wenn er pfeift, kommt sofort Bewegung in die Herde. Seine Chefin macht es ganz anders. Sie ruft jedes Tier beim Namen, gibt den liegenden Kühen einen Klaps auf die Flanke. Sie spricht mit ihnen, schiebt sie an. Bei ihr sind die Kühe störrischer. "Er holt sie schneller ein als ich", sagt Franziska Lienau, "auf jeden Fall!" Auch im Stall sei das so, wenn er sie zum Melken treibt. Das könne er von allem Mitarbeitern am allerbesten, erzählt sie. Ganz ohne Hektik mache er das. "Ich weiß nicht, wie er es macht, aber das ist so." Upendo Oropi Kinoka kann erklären, woran das liegt. Sein Vater und sein großer Bruder hätten es ihm einfach beigebracht. "Hier war es am Anfang etwas schwierig, aber nach und nach habe ich gemerkt, dass die deutschen Kühe mich verstehen. Das macht mich sehr glücklich."
Massai leben als Nomaden mit ihren Rindern zusammen
Die Massai sind Nomaden. Jeder Stamm lebt mit seinen Rindern zusammen. Sie glauben daran, dass Ngai, ihr Gott, ihnen die Rinder geschenkt hat. Er hat das Volk der Massai beauftragt, die Rinder zu hüten. Milch oder Fleisch nutzen sie nur für den Eigenbedarf. Upendos Familie besitzt 60 Rinder. Bis zu 50 Kilometer legen die jungen Männer am Tag mit den Tieren zurück - immer auf der Suche nach Wasser. "Sie sind völlig frei", erzählt Upendo. "Sie kennen keine Zäune." Franziska Lienau lacht und sagt: "Du bist der Zaun." Auch Upendo lacht: "Ja, ich bin der Zaun, genau!" Zäune seien in einem Land wie Deutschland normal und wichtig, das hat er schnell verstanden. Es sei ja auch viel weniger unbebaute Landschaft da. Es sei eben alles anders hier, sagt er, aber das stört ihn nicht. "Er hat sich total schnell angepasst," sagt Franziska Lienau.
Ein Wagnis für den Hof
Ihn einzustellen, war ein Wagnis für den Betrieb. Upendo hat weder eine Ausbildung als Landwirt noch hat er in Tansania jemals Maschinen bedient. Wenn er mit seiner Herde in der Savanne unterwegs war, dann hatte er nur eine Lanze dabei, um sich gegen gefährliche Tiere verteidigen zu können, mehr nicht. Auf dem Hof in Neritz muss er nach und nach lernen, mit den Maschinen umzugehen. Doch jetzt treibt er mit Herdenmanager Frank Rönnfeld erst einmal die Kühe von der einen Seite des offenen Stalls auf die andere, damit sie in den Melkstand gehen können. Die beiden lachen viel, machen Scherze.
Pfeiftechniken aus Tansania funktionieren auch in Stormarn
Upendo habe ihm Bilder von seiner Heimat gezeigt, "die haben da ja die Zebus, die sind ja wesentlich kleiner und da machen die Massai das genauso." Das beeindrucke ihn sehr. Upendo erklärt, dass Massai unterschiedliche Pfeiftöne nutzen, je nachdem, worum es geht. Mit dem einen zeigt er an, dass es eine Wasserstelle gibt. Mit einem anderen holt er Rinder zu sich, wenn sie sehr weit weg grasen. Dann müsse der Ton über 10 oder 15 Kilometer weit zu hören sein. Die Landschaft sei flach und die Büsche so niedrig, dass er seine Tiere über weite Strecken noch sehen könne. "Ich finde das super interessant, total toll", sagt Frank Rönnfeld. Er habe von seinem neuen Kollegen und Freund viel gelernt: "Ich würde ihn nicht missen wollen, ganz ehrlich!"
Weiterbildung an der Melkmaschine
Das mit den Maschinen kommt nach und nach. Da sind sich hier alle einig. Die Gruppe mit den entspannteren Kühen melkt Upendo mit der Maschine schon eigenständig. Auch hier zeigt er keine Hektik. Wenn eine Kuh mal vorm Eingang zum Melkstand träge stehen bleibt, gibt er ihr einen sanften Schubs. Upendo Oropi Kinoka bringt die Sauger am Euter an und startet den Melkprozess. Geduldig und gewissenhaft. Er wirkt dabei schon wie ein Profi. Er strahlt übers ganze Gesicht. "Ich lerne viel und ich bin sehr glücklich, dass ich was Neues über Rinder lerne." Denn Rinder sind für ihn, den Massai aus Tansania, nicht einfach Arbeit. Sie sind sein Leben.