Ärztemangel: Wie Neumünster jetzt um junge Ärzte buhlt
Aktuell sind bereits neun Hausarztpraxen in Neumünster nicht besetzt - und einige der Mediziner und Medizinerinnen schon im Rentenalter. Um Nachwuchs anzulocken und die hausärztliche Versorgung zu sichern, gründet die Ärzteschaft nun selbst ein Versorgungszentrum.
Wer sich ein Bild von der hausärztlichen Versorgung in Neumünster machen möchte, dem rät Dorette Kinzel-Herwig zu einem Besuch in der Anlaufpraxis am örtlichen Friedrich-Ebert-Krankenhaus. Eigentlich für Notfälle außerhalb der normalen Praxissprechzeiten eingerichtet, werde sie von vielen Bürgerinnen und Bürgern als eine Art Hausarzt-Ersatz genutzt.
Viele Menschen finden in Neumünster keinen Hausarzt
"Darauf ist die Anlaufpraxis natürlich überhaupt nicht ausgerichtet und entsprechend überlaufen ist sie meist", erzählt Dorette Kinzel-Herwig. Sie arbeitet als Gynäkologin und ist Vorsitzende des Medizinischen Praxisnetzes Neumünster, einem Zusammenschluss von einem großen Teil der Ärztinnen und Ärzte vor Ort.
Vor allem jenen Menschen, die neu in die Stadt ziehen, bleibt jedoch kaum eine andere Möglichkeit, weil sie schlicht keinen Hausarzt finden: Aktuell sind neun hausärztliche Praxissitze in Neumünster unbesetzt. Damit entfällt ein guter Teil der derzeit 68,5 unbesetzten Sitze in Schleswig-Holstein auf den Planungsbereich Neumünster, zu dem auch das Umland gehört. Nur in in den Planungsberiechen Elmshorn, Geesthacht (je 10,5) und im Bereich Husum (11) gibt es mehr freie Sitze.
Demografie und geänderte Arbeitseinstellung führen zu Mangel
Und das ist wohl erst der Anfang: "Wir blicken mit Sorge auf die zukünftige ärztliche Versorgung, und zwar nicht mehr nur auf dem Land, sondern längst auch in der Stadt", sagt Axel Schroeder von der Ärztegenossenschaft Nord. So steige wegen der Alterung der Gesellschaft einerseits der Bedarf an medizinischer Versorgung, während sie gleichzeitig auch viele Ärztinnen und Ärzte aus dem Beruf ausscheiden lasse.
Tatsächlich ist laut Kassenärztlicher Vereinigung mehr als ein Drittel der Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner derzeit über 60 Jahre alt - regional, etwa an der Westküste, sind es auch schon mal bis zu 50 Prozent. "Und die Jüngeren, die nachkommen, wollen anders arbeiten als die Generation vor ihnen", sagt Axel Schroeder. Eher im Team statt als Einzelkämpfer und gerne angestellt mit festen Arbeitszeiten.
Ärzte planen eigenes hausärztliches MVZ
In Neumünster haben sie wegen dieser Entwicklung längst begonnen umzudenken. Bereits 2019 habe sie der Stadt ein Konzept für ein hausärztliches medizinisches Versorgungszentrum vorgelegt, sei damals aber abgeblitzt, sagt Kinzel-Herwig. "Unsere Idee war dann, die Situation zu sehen wie sie ist, die absehbar nicht besser wird, und es notgedrungen als Praxisnetz selbst zu machen", erzählt sie.
Die Planungen dazu dauerten Jahre - und könnten bald Realität werden. Die Stadt unterstützt das Vorhaben mit 100.000 Euro, das Land mit knapp 500.000 Euro aus dem Versorgungssicherungsfonds.
Träger-Genossenschaft gegründet
Vor knapp drei Wochen gründete ein Großteil der Praxisnetz-Mitglieder eine Genossenschaft, die nun Arbeits- und Mietverträge für Räumlichkeiten schließen kann. "Wenn die gefunden und eingerichtet sind, wollen Kollegen, die absehbar in Rente gehen, ihre Zulassung an das MVZ geben, sich dort anstellen lassen und das Zentrum aufbauen", so Kinzel-Herwig.
Bestenfalls fänden sie gleich ein, zwei Nachwuchskräfte, die sich ebenfalls anstellen und einarbeiten lassen. "Und wenn dann die beiden älteren Kollegen in den Ruhestand gehen, können die noch jüngere Kollegen oder Kolleginnen ausbilden, sodass daraus ein stetiger Prozess wird, Jüngere zu finden."
In Zukunft auch Reprivatisierung möglich
Theoretisch, sagt Dorette Kinzel-Herwig, könnte das Versorgungszentrum in der Zukunft auch von den angestellten Ärzten und Ärztinnen übernommen und reprivatisiert werden. "Dann wäre es eine gute Starthilfe oder Überbrückung in der ärztlichen Versorgung gewesen", sagt sie.
Ein Beispiel dafür gibt es bereits: Als auffiel, dass vier von fünf Hausärzten bald in Rente gehen, entschied Büsum (Kreis Dithmarschen) sich 2015 dafür, ebenfalls ein hausärztliches MVZ aufzubauen - allerdings nicht in ärztlicher, sondern kommunaler Hand. Ein Teil der Ärzte, die sich zunächst anstellen ließen, übernahmen das Zentrum Anfang diesen Jahres von der Stadt.
Trend Zentralisierung: Längere Wege vor allem auf dem Land
Laut Monika Schliffke, Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein, gibt es landesweit eine Entwicklung hin zu größeren Praxisformen, also MVZ oder - zahlenmäßig noch bedeutender - größeren Gemeinschaftspraxen. "Deutschland folgt damit einem europäischen Trend", sagt Schliffke, "wir haben ja immer noch eine mehr als doppelt so hohe ärztliche Versorgung wie die Länder um uns herum."
Es handele sich um einen Prozess, der sicher noch Jahre dauern werde und gerade für Patienten und Patientinnen auf dem Land wohl mit längeren Wegen verbunden sein wird. "Wir können keine Ärzte backen oder uns aus den Waden schneiden", sagt die KVSH-Vorsitzende, "wir können nur über Strukturmaßnahmen versuchen, einen gleichmäßigen Bestand in der Fläche aufrechtzuerhalten."