Raub, Diebstahl, Gewalt: Jugendkriminalität in Niedersachsen steigt

Stand: 26.09.2023 06:09 Uhr

Die Polizei zählt hierzulande immer mehr brutale Übergriffe. Was sagen Juristen und Psychologen dazu? Ein Blick auf Ursachen und Auswirkungen.

von Christina Harland

Ein gewalttätiges Mädchenduo hat im Frühjahr in Hameln Dutzende brutale Überfälle auf Gleichaltrige verübt. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Das Amtsgericht Hameln hat die beiden 14 und 16 Jahre alten Jugendlichen zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. Zuvor saßen sie mehrere Wochen in Untersuchungshaft. 

Brutaler Übergriff im Bahnhof

Eine Betroffene ist die 14-jährige Nele, deren echter Name hier zu ihrem Schutz nicht genannt werden soll. Vier Mädchen hatten sie in einen Fahrstuhl des Hamelner Bahnhofs gedrängt, sie schlugen ihr ins Gesicht und in den Bauch, drückten ihren Kopf gegen eine Metallstange. "Die meinten, ich soll mich hinknien und dann haben die auch im Fahrstuhl noch meine Gel-Nägel rausgerissen." Das alles passierte in der Öffentlichkeit, am helllichten Tag. Der Fahrstuhl des Bahnhofs ist vollständig verglast und sofort sichtbar für alle, die das Bahnhofsgebäude betreten.

Täterinnen zünden ihre Haare an

Nele erzählt weiter: "Dann haben die gesagt, dass das im Fahrstuhl zu offensichtlich ist. Dann haben die mich in die Toilette reingezogen und da haben die dann meine Haare angezündet und meinten, dass ich das selbst löschen soll." Irgendwann, erinnert sich Nele, näherte sich eine Person und die Mädchen ließen von ihr ab. Nele konnte fliehen.

Richterin: Mädchen haben Angst und Schrecken verbreitet

Gemeinsam mit ihren Eltern zeigte Nele den Übergriff bei der Polizei an. Zwei der Täterinnen kamen sofort in Untersuchungshaft. Denn die beiden Mädchen standen in Hameln schon früher vor Gericht. Amtsrichterin Sabine Quack schildert: "Die haben hier wirklich Angst und Schrecken verbreitet." Gerade die 14-jährige Haupttäterin habe auch mit anderen Mädchen weitere Straftaten begangen. Sie sei gerade mal ein halbes Jahr strafmündig gewesen. Nele berichtet: Sie sei nicht die einzige Betroffene in ihrem Freundeskreis. Eine Freundin sei so schwer von den Mädchen verprügelt worden, dass sie mit inneren Blutungen ins Krankenhaus kam. Eine weitere wurde zwei Stunden lang in einem Parkhaus festgehalten und geschlagen. Einer weiteren schlugen die Täterinnen "nur" ins Gesicht.

Jugendbericht des LKA: Mehr Straftaten von Kindern und Jugendlichen

Der aktuelle Jugendbericht der Polizeistatistik für das Jahr 2022 belegt einen Anstieg von Straftaten wie Raub und Diebstahl durch Kinder und Jugendliche. Dabei ist immer häufiger auch Körperverletzung im Spiel. Das beobachtet auch Dogukan Isik. Er ist Strafverteidiger in Hannover. Unter seinen Mandanten sind viele kriminelle Kinder und Jugendliche. Gerade hat er einen 14-jährigen Mörder verteidigt: "Jugendkriminalität gab es schon immer, aber was sicherlich feststellbar ist, auch belegbar ist, ist, dass die Gewaltbereitschaft zugenommen hat bei jungen Leuten." Morde sind den Zahlen des LKA zufolge immer noch die Ausnahme. Doch allein die Gewalttaten, die in diesem ersten Dreivierteljahr an niedersächsischen Gerichten verurteilt wurden, wirken verstörend.

Urteile wegen Mordes und schwerer Körperverletzung

Für den Mord an der 15-jährigen Anastasia in Salzgitter wurde im Februar ein 15-jähriger Mitschüler zu acht Jahren Haft verurteilt. Im Mai wurde eine 16-Jährige zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, nachdem sie gemeinsam mit einer Komplizin eine 14-Jährige bei einem Streit um ein Handy von einem Parkdeck schubsen wollte. Für den Mord an dem 14-jährigen Jan aus Wunstorf bekam ein 15-jähriger Mitschüler im August die Höchststrafe im Jugendstrafrecht von zehn Jahren Haft mit der Option auf eine anschließende Sicherungsverwahrung.

Psychologe: Virtuelle Welt zeigt unerreichbare Ideale

Jugendliche, die gewalttätig werden, bis hin zu einzelnen Mordfällen: Was bricht sich da Bahn? Diese Frage treibt auch den Psychologen Michael Heilemann um. Er hat in der Jugendanstalt Hameln schon vor zwanzig Jahren ein Anti-Aggressionstraining für junge Straffällige etabliert. Ein Modell, das bundesweit Schule machte. Für ihn steht fest: Kinder und Jugendliche nehmen Schaden in ihrer Entwicklung, weil sie zu früh Smartphones, Videospielen und Social-Media-Inhalten ausgesetzt seien. Diese virtuelle Welt zeige ihnen aber häufig unerreichbare Ideale: "Dadurch ist eine permanente Dissonanz oder Frustration vorhanden, und die belastet so stark mein Selbstwertgefühl, dass ich agieren muss. Aber ich kann nicht ins Positive agieren, weil das zu aufwendig ist, da hinzukommen, also muss ich woanders wirksam sein, nämlich im Negativen, im Zerstörerischen." Heilemann plädiert für echte Erlebnisse, gemeinsam mit den Eltern. Sport und Spiele mit der Möglichkeit, Erfolg zu haben. Rechtsanwalt Dogukan Isik sagt, es brauche Grenzen und gute Rollenvorbilder.

Vorbilder und Grenzen fehlen

"Viele junge Leute, die ich hier habe, die haben halt keine Mitgliedschaft in irgendwelchen Sportvereinen, und das erlebe ich immer wieder, dass da die Bezugsperson fehlt", sagt Strafverteidiger Isik. Aber Jugendliche bräuchten nicht nur gute Vorbilder, sie bräuchten auch klare Grenzen und eine Strafe, die auf dem Fuße folge, wenn sie kriminell werden. Er erlebe immer wieder, dass Verfahren ein halbes bis ein dreiviertel Jahr dauern, bis überhaupt eine Anklage erfolge. "Und in dieser langen Zeit sind wieder viele andere Dinge passiert. Dann müssen wir als Staat, als Justiz die Grenzen früher setzen und auch Signale setzen, damit junge Leute gewarnt sind, dass sie diesen Weg nicht weiter gehen. Sonst ist das wie ein roter Faden, der sich durchzieht."

Kinder sind im Netz "dem allergrößten Dreck ausgesetzt"

Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, sieht eine Vielzahl von Gründen für das Phänomen gewaltbereiter Kinder und Jugendlicher: "Wachsende Armut, die Familien in Schräglage bringt, Not auf dem Arbeitsmarkt, Brennpunktbildung, abschmierende Stadtteile, da ballen sich Probleme auf", sagt Baumann. "Dazu kommen Bildungsprobleme, wie wir sie mit der Corona-Zeit bekommen haben. Sie begünstigen Gewalt. Wir müssen aufpassen, dass wir das im Griff behalten." Auch er hält Inhalte in sozialen Medien für ein großes Problem: "Kinder entwickeln sich in die Welt hinein, die wir ihnen anbieten. Zurzeit ist das kein guter Ort." Im Netz seien Kinder ungeschützt dem "allergrößten Dreck ausgesetzt".

Gesellschaft soll sehen, was bei den Jugendlichen los ist

Nele spricht über ihre Geschichte, weil sie will, dass sich etwas verändert. Es fällt ihr sehr schwer. Aber sie betont, die Gesellschaft müsse endlich sehen, was in ihrer Altersgruppe gerade los sei und welche Folgen das habe - auch für sie selbst: "Man ist einfach traumatisiert davon, was passiert ist, und man hat Angst, dass es einem noch mal passiert. Und es ist einfach nicht schön, wenn man wieder dran erinnert wird oder an den Ort zurückkommt." Der Hamelner Bahnhof ist Teil ihres Schulweges. Sie wird ständig an die Tat erinnert. Nele hat eine diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung. Die Hilfe, die sie braucht, erzählt ihre Mutter, kommt nur schleppend. Was Nele jetzt hilft, sind vor allem die Gespräche mit ihren Freundinnen. Sie sagt, die wissen, wovon sie redet.

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Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 26.09.2023 | 19:30 Uhr

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