Mutmaßlicher Pirat: Folterer oder unschuldiges Kind?
Durch Zufall wird im März 2015 in Bayern ein Somalier mit gefälschten Papieren aufgegriffen. Seine Fingerabdrücke beweisen, dass er maßgeblich an der Entführung des deutschen Tankers "Marida Marguerite" 2010 vor Somalia beteiligt war. Das zuständige Landeskriminalamt Niedersachsen ist sich sicher: Er hat Seeleute gefoltert - und doch ist er auf freiem Fuß, weil sein wahres Alter im Dunkeln liegt.
Ahmed zu treffen ist gar nicht so einfach, er ist viel beschäftigt. Jeden Tag lernt er deutsch, dann macht er noch Kampfsport. Erst am späten Nachmittag hat er Zeit für uns. Wir sind zwei Reporterinnen von Panorama 3 und der "ZEIT". Zusammen mit einem Dolmetscher wollen wir den Mann treffen, den ehemalige Geiseln und Ermittlungsbeamte für einen Folterer und somalischen Piraten-Anführer halten.
"Ich habe mit der Polizei zu tun gehabt für eine Tat, die ich nicht begangen habe", sagt er bestimmt. Die Polizei, das sind Ermittler des Landeskriminalamts Niedersachsen. Sie sind sich sicher, dass Ahmed in Wahrheit auf den Namen Buudi Gaab hört und verantwortlich für schwere Straftaten an Bord des deutschen Schiffes "Marida Marguerite" ist.
Acht Monate lang in der Hand von Piraten
Die "Marida Marguerite", ein deutscher Chemikalientanker, war 2010 in der Hand somalischer Piraten. Erst nach acht Monaten und äußerst schwierigen Verhandlungen gaben die Piraten das Schiff gegen fünf Millionen Dollar Lösegeld frei. Die Ermittlungen zur Schiffsentführung liegen bis heute beim LKA Niedersachsen sowie der Staatsanwaltschaft Osnabrück. An Bord konnten umfangreiche Spuren gesichert, alle Crew-Mitglieder wurden vernommen.
"Buudi Gaab ist die grausamste Person, die ich je kennengelernt habe", sagt Chirag Bahri, ehemaliger technischer Offizier an Bord der "Marida Marguerite". "Er kannte keine Gnade, er hat neben uns gestanden und uns ausgelacht, während wir vor Schmerzen geschrien haben. Er hat gelacht, als er unsere Genitalien abquetschte."
Folter und schwere Misshandlungen
Chirag Bahri und viele andere Crew-Mitglieder wurden von den Piraten schwer misshandelt. Offenbar unter dem Kommando von Buudi Gaab wurden den Seeleuten die Genitalien mit Kabelbindern abgeschnürt. Andere, wie der Chefmaschinist Oleg Dereglazov, wurden bei 17 Grad minus nackt in der Kühlkammer an einen Fleischhaken gehängt. Auch er bestätigt gegenüber Panorama 3, dass ein Pirat namens Buudi Gaab die Folterungen befohlen und teilweise auch selbst durchgeführt habe.
"Für ihn gilt natürlich die Unschuldsvermutung", sagt der für den Fall zuständige Osnabrücker Staatsanwalt Jörg Schröder. "Doch die Beweismittel, die wir auswerten konnten, sind stichhaltig." Dazu zählen aktuelle Zeugenaussagen, die ihn als Buudi Gaab identifizieren, sowie Dutzende Fingerabdrücke an Bord des Schiffes. Auch auf Dokumenten, die die Piraten zurückließen, finden sich seine Fingerabdrücke. Und dann ist da noch eine Nachricht, die die Ermittler auf seinem Handy fanden: "Hallo. Ich bin’s, Buudi Gaab", steht dort sinngemäß.
Das Problem der Altersbestimmung
Doch anklagen konnte Staatsanwalt Schröder den Somalier nicht. Denn niemand, außer Ahmed selbst, kennt sein wahres Alter. Und er macht widersprüchliche Angaben, hat keinerlei Dokumente, die sein Alter belegen. Deshalb wurde ein Altersgutachten in Auftrag gegeben. Ein Mediziner untersuchte Ahmed und bestimmte unter anderem anhand der Ausprägung verschiedener Knochen ein "Mindestalter". Die Methode ist nicht unumstritten, dennoch hat sie im Ergebnis ein größeres Gewicht als alle anderen Beweise. Der Sachverständige kommt zu dem Schluss, dass Ahmed ein "absolutes Mindestalter" von 17, 3 Jahren hatte. Das "wahrscheinlichste Lebensalter" liege bei 19 Jahren.
Im Zweifel für den Angeklagten
Die Entführung liegt über fünf Jahre zurück. Da für Ahmed - wie für jeden anderen Beschuldigten auch - der Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" gilt, wird das niedrigste Alter zugrunde gelegt. Ahmed könnte 2010 also erst zwölf Jahre alt gewesen sein - ein Kind, das noch nicht strafmündig ist. Der Haftrichter des Amtsgerichtes Osnabrück entlässt Ahmed aufgrund des Gutachtens sofort aus der Untersuchungshaft. Mittlerweile hat er einen Asylantrag gestellt und wohnt in Hannover.
Viele offene Fragen
Das Ermittlungsverfahren ist eingestellt. "Ich hätte ihn natürlich lieber zur Anklage oder gar zur Aburteilung gebracht", sagt Staatsanwalt Schröder, "aber ich muss natürlich auch die Spielregeln akzeptieren." Offene Fragen bleiben. Zum Beispiel: Ist es überhaupt plausibel, dass ein Kind von zwölf Jahren das Kommando über bis zu hundert Piraten führt? Dass ihm ein solch großer Auftrag übertragen wird? Dass ein Kind Folterungen befiehlt und selbst durchführt? Es gibt Kenner somalischer Piraterie, die das aufgrund bisheriger Erfahrungen nachhaltig bezweifeln. Auch ehemalige Geiseln sagen aus, dass Buudi Gaab zwar wie ein Kind aussah, sich aber wie ein Erwachsener verhalten habe. Diese Einschätzungen reichen jedoch nicht, das gutachterlich geschätzte Alter infrage zu stellen.
Es gibt jemanden, der Ahmed kennt und seine Rolle an Bord einschätzen könnte: der Somalier Farax Maxamad S., verurteilt zu zwölf Jahren Haft als einer der Drahtzieher und bei der Entführung ebenfalls an Bord. Ob Ahmed Buudi Gaab ist, dazu sagt Farax M. nichts. Er beantwortet aber über seinen Anwalt Jens Meggers Fragen: "Er geht davon aus, dass keiner auf dem Schiff gewesen ist, solange er da gewesen ist, der unter 20, 22 Jahre alt gewesen ist", sagt Meggers. Auch die Antwort auf die Frage, ob man als Piraten-Anführer erwachsen sein muss, ist interessant: "Ja, dass kann man wohl so sagen", sagt Meggers. "Ein Kind wird mit Sicherheit dort nicht von Erwachsenen akzeptiert."
Eine Aussage des inhaftierten Piraten würde die Staatsanwaltschaft interessieren. "Wenn wir Anhaltspunkte bekommen, die zu einer anderen Beurteilung Anlass geben", sagt Staatsanwalt Schröder, "dann müssten wir wieder tätig werden". Ob es dazu kommt, ist offen.