Das Folterschiff
Es ist der 8. Mai 2010, als in einer Reederei im niedersächsischen Haren an der Ems das Telefon klingelt. Der Anruf ist kurz - und äußerst dramatisch. Der Kapitän des Schiffes "Marida Marguerite" meldet: "We are under piracy attack". Die Reederei ist sofort alarmiert. Es ist der Beginn der längsten Geiselnahme eines deutschen Schiffes durch somalische Piraten.
Die Piraten sind von Anfang an brutal. Sie schlagen den Kapitän und zwingen ihn, sein Schiff vor die Küste Somalias zu steuern. Die Crew, 22 Mann aus Indien, Bangladesch und der Ukraine, hat keine Wahl. Am 11. Mai erreicht die "Marida Marguerite" somalische Gewässer. Etwa 100 Piraten gehen an Bord, sie beginnen, das Schiff zu plündern und die Mannschaft zu berauben Der Verhandlungsführer der Piraten, Ali Jama, nimmt Kontakt mit der Reederei auf. Die Piraten wollen Lösegeld, sie fordern 15 Millionen Dollar.
Reederei bildet Krisenstab
In Haren an der Ems hat die Reederei sofort einen Krisenstab gebildet. Die Angehörigen werden informiert, der Kontakt mit den zuständigen Behörden wird aufgenommen. Polizeibeamte des LKA Niedersachsen treffen ein, die Staatsanwaltschaft Osnabrück eröffnet ein Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen Piraterie und erpresserischen Menschenraubs.
Die Marschroute wird festgelegt. Die Geiseln sollen unversehrt und schnellstmöglich freikommen. Damit das gelingt, beraten externe Spezialisten die Reederei bei den Lösegeldverhandlungen. Eine Auflage der Versicherung, die später das Lösegeld bezahlen wird. Die "Marida Marguerite" ist versichert gegen Piraten-Angriffe, mit einer so genannten "Kidnap and Ransom insurance".
Folterungen an Bord
Vor Somalia verschärft sich die Situation der Geiseln. Als es einen Streit ums Trinkwasser gibt, führen die Piraten Scheinhinrichtungen durch. Sie erhöhen den Druck auf die Reederei - und lassen auch die Geiseln in Haren anrufen: "Ich musste sagen, dass der Kapitän tot ist, dass die Piraten ihn ermordet haben - und einen nach dem anderen töten werden, wenn die Verhandlungen nicht vorangehen. Dabei hielten sie mir ein Gewehr an die Schläfe", so Chefmaschinist Oleg Dereglazov.
Die Wahrheit ist: Die Piraten bluffen nur, das LKA Niedersachsen wertet diese Anrufe als "normale Bedrohungsszenarien". Doch im September 2010 eskaliert die Situation. Mit der Ankündigung, dass sie einige aus der Crew ab jetzt "jeden Tag und jede Nacht foltern werden" beginnt ein unvorstellbares Martyrium. So werden einigen Männern die Genitalien mit Kabelbindern abgeschnürt und Oleg Dereglazov wird nackt bei minus 17 Grad in der Kühlkammer an einen Fleischhaken gehängt.
Fünf Millionen Dollar Lösegeld
Kurz nach Weihnachten 2010 geben die Piraten das Schiff gegen ein Lösegeld von fünf Millionen Dollar frei. Das Lösegeld liegt Statistiken zufolge deutlich über dem Durchschnittswert, der damals für andere Schiffe bezahlt wurde. Auch die Dauer ist Statistiken zufolge mit fast acht Monaten überdurchschnittlich lang.
Die Schiffscrew fährt mit letzter Kraft in sichere Gewässer, in den Oman. Hier gehen die LKA-Ermittler an Bord. Ihre Spurensuche verläuft erfolgreich. Sie sichern unter anderem ein Foto des Verhandlungsführers Ali Jama, alias Mohammad Shibin. Er hat sich aus Versehen selbst auf dem Notebook eines Crewmitglieds fotografiert. Weil er auch in die Entführung der US-amerikanischen Yacht "Quest" verwickelt war, verhaften ihn amerikanische Spezialeinheiten. Im August 2012 wird er in den USA zu zwölfmal lebenslänglich verurteilt.
Ein weiterer, möglicherweise hochrangiger Pirat sitzt zurzeit in Untersuchungshaft. Der Somalier war illegal nach Deutschland eingereist und anhand seiner Fingerabdrücke überführt worden. Nach ersten Ermittlungsergebnissen soll er für die Buchhaltung an Bord des Schiffes verantwortlich gewesen sein.