Weltkrebstag: Weltweit erstes Massen-Röntgen 1939 in Mecklenburg
Vor 85 Jahren wurden innerhalb weniger Monate 640.000 Mecklenburger und Mecklenburgerinnen geröntgt. Diese weltweit erste Massen-Untersuchung, die auch der Krebsvorsorge diente, hatte einen zweifelhaften ideologischen Hintergrund.
Mit vier umgebauten Bussen tourten sie im Frühjahr 1939 durch Mecklenburg, die Männer des "SS-Röntgensturmbann", befehligt vom Radiologen Hans Holfelder. Sie hatten eine umfassende Aufgabe vor sich: Jede Mecklenburgerin und jeder Mecklenburger sollte geröntgt werden, egal ob Kind oder Greis. So etwas hatte es bis dahin weltweit noch nicht gegeben. "Diese Gedanken, solche Röntgenuntersuchung an größeren Gruppen durchzuführen, sind schon älter, sind schon früher aufgekommen, auch vor der NS-Zeit schon", sagt der Greifswalder Medizinhistoriker Hartmut Bettin, "man hat es aber eben in der NS-Zeit besonders wirkungsvoll organisieren können".
Röntgenapparate in Schulen, Scheunen, Kneipen
Schulen, Scheunen, Werkhallen, Dorfkneipen: Überall wurden Röntgenapparate morgens auf- und abends wieder abgebaut. Am Ende sind nahezu alle 640.000 Einwohner Mecklenburgs durchleuchtet. Die Aufnahmen des sogenannten "Volksröntgenkatasters" wurden unter anderem auf Krebs-Anzeichen untersucht. "Deutschland war zu dieser Zeit ein hoch entwickelter Industriestaat mit einer aufblühenden chemischen Industrie. Und damit war natürlich verbunden, dass viele krebserregende Stoffe, die in ihrer Wirkung noch nicht so eingehend erforscht waren, eben auch eingewirkt haben", so Bettin.
Weltweit höchste Krebsrate im Deutschen Reich
Das Deutsche Reich hatte damals eine der weltweit höchsten Krebsraten. Die Nazis nahmen die Krankheit deshalb ernst. Sie ließen den Zusammenhang von Rauchen und Lungenkrebs erforschen, starteten Aufklärungskampagnen, riefen zur Vorsorge auf. Einige krebserregende Stoffe wurden verboten, der Arbeitsschutz verbessert. Doch all das passierte nicht aus Sorge um den Einzelnen. Dem NS-Regime ging es um den "Volkskörper". Wer dazu gehörte und wer nicht, das entschied eine inhumane, rassistische Ideologie. Bettin: "Das heißt eben auch, dass zum Beispiel der Radiologe Hans Holfelder in seinen Vorlesungen Krebszellen als Juden dargestellt hat, die dann von Sturmtrupps sozusagen als Metapher für die Röntgenstrahlen besiegt werden. Solche Brachialmetaphern sind gerne gewählt worden." Auch wurden jüdische Ärzte und Forscher verfolgt und vertrieben. Bedeutende Krebsmediziner wie Ferdinand Blumenthal oder Richard Werner seien aus der Krebsforschung gedrängt worden, berichtet Bettin. "Und so ist der Grundlagenforschung im Krebsbereich auch ein schwerer Schlag versetzt worden."
Weltweit erste Krebskrankenstatistik
Unter diesem ideologischen Vorzeichen gelang in Rostock noch eine weitere medizinische Pioniertat. Ab 1937 erstellte der Arzt Carl Hermann Lasch die weltweit erste Krebskrankenstatistik. Sie verzeichnet Patientenalter und Krebsart sowie Dauer, Verlauf und Behandlung der Krankheit. Dafür mussten alle mecklenburgischen Ärzte Lasch neue Fälle melden und fortlaufend berichten. Für die Krebsforschung war das ein großer Gewinn. Vorher gab es nur Sterbezahlen ohne große Aussagekraft. Bettin: "Wichtig ist bei allem, was wir an fortschrittlichen Entwicklungen in dieser Zeit feststellen können, auch immer zu überlegen: Vor welchem Hintergrund, in welchem Kontext hat das stattgefunden und wem hat es wirklich am Ende genutzt?"
Gesundheit keine Privatangelegenheit
Eine Antwort auf Hartmut Bettins Frage findet sich im Schweriner NSDAP-Blatt "Niederdeutscher Beobachter": "Deutschland braucht gesunde Menschen" lautete die Überschrift zu einem Artikel über die Mecklenburger Röntgenaktion. Darin wurde jedem "Volksgenossen" eingeschärft, dass es "nicht seine Privatangelegenheit ist, ob er gesund sein und bleiben will". Menschen als "Menschenmaterial" für ein verbrecherisches Regime - die weltweit erste Krebskrankenstatistik und die weltweit erste Röntgenreihenuntersuchung eines kompletten Landes waren Pionierleistungen, aber keine Heldengeschichten.