NDR-Reporter Roman Schmelter berichtet live aus Schwerin. © Screenshot

Grevesmühlen: Stimmungsmache und Falschmeldung?

Stand: 20.06.2024 11:04 Uhr

Die Aufgabe der Medien ist es, Informationen einordnen zu lassen und zu verbreiten. So sollen sich die Nutzer eine eigene Meinung anhand von Fakten bilden können. Ist das im Fall Grevesmühlen geschehen? Gab es Vorverurteilungen? Hat die Polizei Fehler gemacht? Der Autor, NDR Studioleiter Roman Schmelter, gibt einen Einblick in die journalistische Bewertung bei diesem Thema.

von Roman Schmelter

Es ist die Nacht von Freitag, 14. Juni, auf Samstag, um 1.23 Uhr, als die Polizei per Pressemitteilung über einen Einsatz informiert. Darin steht der Satz: "Dem jüngeren Mädchen soll unter anderem in ihr Gesicht getreten worden sein." Zwei Tage später korrigiert die Polizei diesen Satz in einer weiteren Mitteilung: "Nach derzeitigem Ermittlungsstand hat das achtjährige Mädchen keine körperlichen Verletzungen erlitten, die auf die in der Erstmeldung geschilderte Tathandlung hindeuten." Zwischen der ersten Meldung am Sonnabend und der zweiten sind viele Stimmen zum Vorfall zu hören, auch bei uns im NDR. Politiker aller Parteien äußern sich, Experten schätzen die mutmaßliche Tat ein: Empörung, Trauer, Vorwürfe.

Waren "die Medien" zu schnell?

Jeden Tag erreichen die Redaktionen zahlreiche Meldungen von der Polizei: Verkehrsunfälle, Diebstähle, vermisste Menschen und vieles mehr. Journalisten geben diese Informationen weiter. Und das immer dann, wenn Menschen schwer verletzt oder getötet wurden. In der Regel telefonieren wir noch mal mit der Polizei und fragen Details nach. Das haben wir auch im Fall des Angriffs auf das Mädchen in Grevesmühlen gemacht und uns wurden die Angaben bestätigt. Dementsprechend haben wir berichtet.

Die NDR Reporter haben am Sonnabend in Grevesmühlen mit Menschen vor Ort gesprochen. Die mutmaßlichen Opfer wollten nichts sagen, mutmaßliche Täter haben sich nicht zu erkennen gegeben. Es gab zu diesem Zeitpunkt keinen Anhaltspunkt, warum die Darstellung der Polizei nicht stimmen sollte. NDR Journalisten haben zudem die Quelle benannt und darauf verwiesen, dass die Ermittlungen laufen. Dennoch müssen wir Berichterstatter uns fragen, ob das auch bei jeder Meldung wirklich deutlich geworden ist. Grundsätzlich wird der Sachstand in den NDR Angeboten fortlaufend aktualisiert. Im Fall Grevesmühlen hat es seit Sonnabend dutzende Aktualisierungen gegeben.

Müssten Journalisten die Meldungen der Polizei nicht überprüfen?

Ja, Journalisten überprüfen die Informationen der Polizei, wenn berechtigte Zweifel bestehen. Also etwa, wenn ein Tathergang nicht logisch erscheint oder scheinbar wichtige Informationen fehlen. Aber selbst dann würden wir immer die Darstellung der Polizei wiedergeben, bei Nennung dieser Quelle. Denn die Polizei hat eine besondere Rolle im demokratischen System: Sie ist die ausführende Gewalt. Das Handeln der Polizei muss der Öffentlichkeit und damit der Gesellschaft zugänglich gemacht werden.

Es muss im Journalismus aber deutlich werden, dass die Quelle die Polizei ist und dass es sich um ein laufendes Ermittlungsverfahren handelt. Solange kein Gericht ein Urteil gesprochen hat, können sich Kriminalfälle noch weiterentwickeln und mutmaßliche Täter zu Unschuldigen werden. Und natürlich ist es Aufgabe von Journalisten, auch die Arbeit der Polizei kritisch zu betrachten. Das hat der NDR im Fall Grevesmühlen getan und den Innenminister gefragt, wie es zu der ersten Pressemitteilung der Polizei kommen konnte. Erkennbar wird, dass die Polizei unter Druck steht, Informationen schnellstmöglich bekanntzugeben.

VIDEO: Innenminister Pegel zum Fall von Grevesmühlen (1 Min)

Haben sich "Experten" vorschnell geäußert?

Es hat am vergangenen Wochenende in Mecklenburg-Vorpommern zahlreiche Vorfälle mit ausländerfeindlichem Hintergrund gegeben und ein achtjähriges Mädchen konnte offenbar nicht ungestört mit dem Roller durch Grevesmühlen fahren. Auch wenn sich der Tathergang im Detail anders darstellt als in der ersten Polizeimitteilung, bleibt der Vorwurf, dass eine Gruppe Jugendlicher zwei Mädchen belästigt und rassistisch beleidigt hat.

Danach kam es zu einer Situation, bei der unklar ist, wer was getan hat. Es ist auch ein Video aufgetaucht, das einen Ausschnitt der Auseinandersetzung zeigt. Zu hören sind Beleidigungen, Besänftigungen, Schreie. Eine Bewertung der Geschehnisse anhand dieses Videos ist dennoch unzulässig, denn es fehlt der Anfang der Situation, das Ende und alles das, was die Kamera nicht erfasst. Auch dieses Video ist nur ein kleiner Ausschnitt der Realität. Die Rolle der Medien und auch unsere als NDR ist es, Experten zu finden, die wissen, dass sie nicht alles wissen und uns dennoch eine Einordnung geben, damit die Öffentlichkeit ein größeres Bild bekommt.

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War die Politik zu empört?

Es ist die Aufgabe der Medien generell, mit Politikern vieler Parteien zu sprechen. Den Aussagen können wir dann nur Fakten gegenüberstellen, die wir kennen. Eine Meinung dürfen Medien nicht haben. Das ist die Aufgabe der Nutzer/Zuschauer/Zuhörer. Die Politik stimmt ihre Reaktion oft auf die Erwartungen der Wähler ab. Und die Kommentarspalten sind seit Sonnabend voll, die Zuschauermails "stapeln" sich.

Viele Menschen haben viele Meinungen, ohne alle Fakten zu kennen. Denn bis heute ist der Vorgang noch nicht aufgeklärt. Polizei, Medien, Experten und Politik haben im Fall von Grevesmühlen einen nicht abgeschlossenen Ermittlungsvorgang diskutiert. Die Erwartungen an diese vier Institutionen sind andere, nämlich im Zweifelsfall abzuwarten und dann zu reagieren. Die gesellschaftliche Erwartung ist aber auch, dass Informationen nicht zurückgehalten und schnell veröffentlicht werden. Das bleibt für Medien, Politik, Polizei und Experten eine ständige Gratwanderung.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 19.06.2024 | 06:30 Uhr

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