Forensik: Rostocker Forscher wollen Patienten stärker beteiligen
Mit dem Modellprojekt "PART“ betreten Rostocker Forscher Neuland. Sie wollen Betroffene künftig stärker in ihre Arbeit einbeziehen. Schließlich kennen sie die Alltagsprobleme ihre Erkrankungen am besten.
Im Seminarraum der forensischen Klinik im Rostocker Stadtteil Gehlsdorf stellt die Soziologin Eva Drewelow gerade Kaffee und Kuchen auf den Tisch. Genesungsbegleiter Kai Gerullis ist unterwegs, um die Patienten von den unterschiedlichen Stationen abzuholen – psychisch kranke und oft auch drogenabhängige Straftäter. Im Dezember haben sie einen eigenen Beirat gegründet, ein Gremium, das wissenschaftliche Studien von Anfang an begleiten soll. Viele Patienten waren von der Idee sofort begeistert. Micha F* ist einer von ihnen. Er sagt: "Es geht um uns und da finde ich es nur fair, dass wir auch ein Mitspracherecht haben."
Experten aus Erfahrung
"PART" heißt das von der Robert Bosch Stiftung geförderte Modellprojekt, bei dem Eva Drewelow alle Fäden in der Hand hält. Ihr Ansatz: "Patienten sind Experten aus Erfahrung. In England werden sie schon sehr lange und sehr erfolgreich an Forschung beteiligt. In Deutschland gibt es das, zumindest im Bereich Forensik, bisher nicht." Sie kann das nicht verstehen, denn auf diese Weise werde eine Menge Potential verschenkt. Allerdings müssten beide Seiten erst einmal lernen, wirklich miteinander zu reden.
Jeder übernimmt Verantwortung
Heute sind vier Patienten zur Beiratssitzung gekommen. Jeder von ihnen greift sich einen der bunten Pappzettel, die auf dem Tisch bereit liegen – und übernimmt damit eine der anstehenden Aufgaben, ein kleines Stück Verantwortung. Es geht um den obligatorischen Rückblick auf die vorherige Sitzung, das Protokollschreiben, den Blick auf die Uhr, damit das Treffen nicht zu lange dauert… Kyra Henze, die schon seit anderthalb Jahren als Stationspsychologin in Gehlsdorf arbeitet, ist dabei nebenberuflich zu promovieren. Sie ist ein bisschen aufgeregt, als sie dem Beirat ihr Forschungsthema vorstellt. "Implementierung und Evaluation von Life Minus Violence". Verständnislose Blicke richten sich auf die 26-Jährige. Dann erklärt sie mit einfacheren Worten: Es geht um ein neues Therapieprogramm für Menschen, die zu Gewaltstraftaten neigen. Im englischsprachigen Raum sei das bereits erprobt. Sie will herausfinden, ob es auch in Deutschland funktionieren könnte.
Sprache der Wissenschaft
„Was ist eigentlich eine These?“ Schnell wird klar, dass die Sprache der Wissenschaft manchmal Erklärungen braucht – was auch für Fragebögen wichtig wäre. Denn die funktionieren nur, wenn die Befragten wirklich verstehen, was der Forscher von ihnen wissen will. Und was die neue Therapie angeht, erklären die Beiratsmitglieder ganz klar, dass Flyer, die über deren Inhalte aufklären, von den meisten ihrer Mitpatienten gar nicht gelesen würden. Um Teilnehmer zu finden, die sich dann auch wirklich auf die Behandlung einlassen, müsse es schon eine mündliche Infoveranstaltung geben, dann etwas Zeit, um darüber nachzudenken und dann noch einmal die Möglichkeit, Fragen zu stellen.
"Anfangs als Hürde betrachtet"
Eine Stunde dauert das Gespräch. Kyra Henze verlässt den Raum mit einem erleichterten Lächeln. Sie gesteht: „Am Anfang, als mir mitgeteilt wurde, ich muss meine Arbeit im Beirat vorstellen, habe ich das als eine Hürde gesehen - noch eine Sache, die ich machen muss.“ Inzwischen sei ihr klar geworden, dass die Mitarbeit der Patienten eine echte Hilfe ist, die sie in ihrer Forschung weiterbringt und Fehlern vorbeugt.
Beiräte für alle Fachrichtungen
Wie in der Forensik, hat sich mittlerweile auch in der Rostocker Demenzforschung ein Beirat gegründet, da also, wo es um die Erforschung von Krankheiten geht, bei denen sich geistige Fähigkeiten nach und nach verschlechtern. Bis November kommenden Jahres läuft das Modellprojekt. Erklärtes Ziel von Ewa Drewelow ist es, danach an der hiesigen Universitätsmedizin Patientenbeiräte für alle Fachrichtungen zu installieren.