Ärger über späte Abwasser-Nachzahlungen
Familie Frank hat schon einmal gezahlt. Sie haben sogar die Quittung noch: 11.576,89 Mark musste die Familie aus Dambeck, einem Ortsteil von Kratzeburg in Mecklenburg-Vorpommern damals im Jahr 1998 zahlen, um ihr Grundstück an das Abwassersystem anzuschließen. Eigentlich ein einmaliger Beitrag. Doch jetzt - 20 Jahre später - haben sie wieder eine Zahlungsaufforderung in der Post - für denselben Abwasseranschluss. Noch einmal mehr als 8.000 Euro. "Das ist eine direkt Abzocke", sagt Joachim Frank, der vor 85 Jahren in dem Haus in Dambeck geboren wurde. "Man fühlt sich ohnmächtig", fügt seine Enkelin Tina Frank-Hinderer hinzu.
Bis Mitte der 90er Jahre hatten die meisten Gemeinden in der dünn besiedelten Region rund um Neustrelitz keinen Anschluss an ein Klärwerk. Das Abwasser landete in kleineren Klärgruben oder direkt als Düngemittel auf dem Acker. Dann kam die Modernisierung: Die Gemeinden wurden an ein neues Abwassernetz angeschlossen, das heute zentral gesteuert wird: vom Wasserzweckverband Strelitz. Das kostete viel Geld und die Grundstücksnutzer mussten einen Anschlussbeitrag bezahlen.
Tausende Eigentümer müssen nachzahlen
Jetzt werden sie für den gleichen Anschluss noch einmal zur Kasse gebeten. In der Region um Neustrelitz landen in diesen Tagen überall neue Abwasserbescheide in den Briefkästen. Schon mehr als 5.000 Grundstückseigentümer haben eine Neuberechnung für den Anschluss ihres Abwassers erhalten. Manche kriegen auch etwas zurück, aber insgesamt fallen die Nachforderungen deutlich höher aus. Insgesamt bleibt beim Wasserzweckverband durch die Nachzahlungen ein Plus von circa zwei Millionen Euro hängen. Aber wie kommt der Wasserzweckverband auf die Idee, plötzlich neu zu berechnen?
Landespolitik und Justiz drängen zu Nachberechnungen
Möglich macht die neuen Bescheide das Kommunalabgabengesetz von Mecklenburg-Vorpommern. Demnach können Beiträge bis zu vier Jahre nacherhoben werden - die Frist beginnt allerdings erst vier Jahre nach der ersten "wirksamen Satzung". Und das ist die Krux: Denn nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Greifswald hatte der Wasserzweckverband Strelitz bis 2014 keine wirksame Satzung. Folglich seien auch die Beiträge falsch berechnet worden.
Das bedeutet: Auch, wenn viele hier schon vor mehr als 20 Jahren für den Anschluss bezahlt haben, läuft erst jetzt, vier Jahre nach 2014 die Frist für die Nachforderungen ab: Der Zweckverband kann nur noch bis Ende dieses Jahres nachberechnen. Er müsse das sogar, schreibt die Vorsteherin des Wasserzweckverbandes, Constance Lindheimer. "Die Verbandsversammlung hatte kein Ermessen bei der Nacherhebungspflicht von Beiträgen", so Lindheimer.
Bürgermeistern wurde Haftung angedroht
Die Bürgermeister der Region, die im Wasserzweckverband die Entscheidungen treffen, hatten sich zunächst gegen die Neuberechnungen gewehrt. "Ich finde die Nachberechnungen selbst ungerecht", erzählt etwa der Bürgermeister von Kratzeburg, Guntram Wagner. Doch dann habe der Landkreis als Rechtsaufsichtsbehörde Druck gemacht, die Gerichtsurteile aus Greifswald umzusetzen.
"Hier war die persönliche Inhaftnahme der Bürgermeister durch die Rechtsaufsichtsbehörde angedroht worden", erzählt Wagner. Letztlich stimmten Bürgermeister dann doch für eine Neuberechnung. Das bestätigt auch der für die Aufsicht zuständige Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Verzichte der Verband auf Einnahmen, sei das eine Pflichtverletzung und könne für den Verband "Schadensersatzpflichten sowie disziplinar- und strafrechtliche Konsequenzen" bedeuten, heißt es vom Landkreis.
Rechtsanwalt Holmer: Vertrauensschutz verletzt
Nach Recherchen von Panorama 3 betreffen die Nachforderungen nicht nur das Abwassergebiet rund um Neustrelitz. Auch im Landkreis Ludwigslust-Parchim etwa wurden tausende Nachzahlungsaufforderungen verschickt - und auch auf Usedom müssen Betroffene teilweise nach Jahrzehnten noch einmal zahlen.
Der Rechtsanwalt Barnabas Holmer vertritt dort rund 50 Mandanten, die mit hohen Nachzahlungen konfrontiert sind. Etwa 2.500 Bescheide wurden seit dem Jahr 2000 neu verschickt, weil Beitragssätze von Grundstücke nach einer alten Satzung entweder zu hoch oder zu niedrig erhoben wurden, teilt der Zweckverband Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung Insel Usedom auf Anfrage von Panorama 3 mit.
Bei weiteren 2700 Bescheiden seien Nacherhebungen gefordert worden, weil damals ungültige Erschließungsverträge abgeschlossen wurden. Auch hier gehen die Nachforderungen zum Teil 20 Jahre zurück. Holmer findet es problematisch, dass "bei vielen Bürgern der Eindruck entsteht, dass der Staat sich hier nicht an Regeln hält, die für uns alle gelten." Die späten Nachzahlungen verletzten den Vertrauensschutz der Bürger.
Bundesverfasssungsgericht urteilte gegen Nacherhebung
Denn tatsächlich stellte das Bundesverfassungsgericht für ähnliche Fälle in Bayern und Brandenburg eine Verletzung des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit fest. Die höchsten Richter verlangten dort, dass Beiträge nicht unendlich nacherhoben werden könnten und mahnten das Recht der Bürger an "irgendwann Klarheit zu erlangen, ob und in welchem Umfang er zu einem Beitrag herangezogen werden kann".
In Mecklenburg Vorpommern reagierte die Landesregierung auf das Urteil mit einer Änderung des Kommunalabgabengesetzes. Hierin wurde nun eine zeitliche Begrenzung und eine Beitragserhebung bis spätestens 2020 festgelegt. Damit sind die aktuell geforderten Beiträge wie rund um Neustrelitz oder auf Usedom rechtens. "Da entsteht bei mir und anderen Betroffenen der Eindruck, dass Recht ein bisschen nach Kassenlage gemacht wird", sagt Barnabas Holmer.
Innenministerium weicht Fragen teilweise aus
Auf die Fragen von Panorama 3 antwortet das Innenministerium nur teilweise. Generell habe man mit der Novelle des Kommunalabgabengesetzes das Ziel gehabt alle gleich zu behandeln heißt es.
Familie Frank hat sich vorgenommen durch alle Instanzen zu gehen. Vorerst haben sie Widerspruch eingelegt, am Ende eines langen juristischen Verfahrens könnte auch hier das Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen. Der Verband Deutscher Grundstücksnutzer arbeitet derzeit an einem Musterverfahren, das er mit einigen Betroffenen führen möchte. Das Ziel ist eine Entscheidung herbeizuführen, die beispielhaft auch für andere Verfahren steht. Bis dahin kann es aber noch Jahre dauern. Familie Frank und andere müssen zunächst einmal zahlen.