Kommentar zu fünf Jahren Corona: Mehr Freiheit oder weniger Tote?
Peter Mücke hat die Corona-Pandemie als ARD-Korrespondent in New York erlebt. Angesichts dort zunächst verharmlosender Aussagen der Stadtoberen und später Abertausenden Toten findet er, dass die Politik in Deutschland vieles richtig gemacht hat.
Die Corona-Zeit haben meine Familie und ich in den USA verbracht, in New York, einer Stadt, die als Epizentrum der Pandemie auch durch die deutschen Medien geisterte. Dort haben wir erlebt, was es heißt, wenn das Coronavirus unterschätzt wird und die Politik versagt.
Ein Präsident Trump, der davon spricht, es handle sich nur um eine Grippe; ein Bürgermeister und ein Gouverneur, die die Bevölkerung in Sicherheit wiegen, weil man ja das beste Gesundheitssystem auf diesem Planeten hier in New York habe und auffordern, man solle seinen Alltag einfach weiterleben. Die Konsequenz: zum Teil mehr als 800 Tote täglich in der Stadt, lange Reihen von Kühllastern vor den Kliniken, um die Leichenberge zu lagern; Menschen, die sterben, weil die überfüllten Krankenhäuser sie nicht mehr aufnehmen können. Ein Feldlazarett im Central Park, ein Lazarettschiff im Hafen und - viel zu spät - ein Total-Lockdown von fast einem Jahr.
Deutschland als leuchtendes Vorbild in den USA
Für Medien, Wissenschaftler und viele Bürger in den USA war zu dieser Zeit Deutschland ein leuchtendes Vorbild. Wissenschaftler mit ausgewogenen Einschätzungen; eine Politik, die darauf hörte und entschlossen handelte; Kliniken, die sich schnell auf die Herausforderungen einstellten mit dem Ergebnis, dass in Deutschland viel weniger Menschen sterben mussten als fast überall sonst auf der Welt.
Deshalb finde ich es irritierend, mit welcher Härte und Besserwisserei hierzulande inzwischen die Corona-Politik kritisiert wird. Natürlich hätten Bundes- und Landesregierungen auch eine Strategie mit weniger Einschränkungen für die Bevölkerung verfolgen können - kein Maskenzwang, weniger Ausgehverbote, keine 3G-Regeln. Darüber kann man, darüber sollte man auch reden. Aber dann nicht nur unter dem Aspekt Einschränkung der Bürgerrechte, sondern auch darüber, ob man bereit gewesen wäre, für ein Mehr an Freiheit auch mehr Tote in der Bevölkerung hinzunehmen. Und dass der lasche Umgang mit der Pandemie vor der zweiten Welle überhaupt erst zu vielen dieser beklagten Einschränkungen geführt hat.
Kinder Corona aussetzen oder Infektionsketten unterbrechen
Natürlich muss man über die langen Schulschließungen reden, die für viele Kinder und Jugendliche bis heute zum Teil schwere Folgen haben - aber dann mit dem Stand von damals, als plötzlich ein neues, unbekanntes Virus mit schwersten Infektionsverläufen und einer Sterblichkeit zehn bis 20 Mal höher als bei einer Grippe auftauchte. Da muss Politik abwägen: Kinder Corona aussetzen oder Infektionsketten unterbrechen, damit ein Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Mit den Kenntnissen von heute und der Möglichkeit einer Impfung fällt vielen das Urteil allzu leicht.
"Ein autoritärer Staat nutzte die Pandemie, um die Freiheit seiner Bürger einzuschränken": Selbst im Wahlkampf versuchen Parteien mit dieser Parole Stimmung zu machen. Für eine wie auch immer geartete Aufarbeitung der Corona-Zeit nach der Bundestagswahl macht das wenig Hoffnung auf mehr als ein politisches Tribunal ohne Erkenntnisgewinn. Dabei müsste es das Ziel sein, Lehren aus dieser Pandemie zu ziehen, um für das nächste Mal besser vorbereitet zu sein. Ich würde sogar sagen: noch besser. Denn im Großen und Ganzen ist in Deutschland vieles gut gelaufen. Vielleicht fällt dieses Urteil leichter, wenn man in einem anderen Land erlebt hat, wie schlecht Corona-Politik sein konnte.
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