Kommentar: Künstliche Intelligenz intelligent nutzen
Die Diskussion über die Nutzung Künstlicher Intelligenz (KI) hat sich in den vergangenen Wochen verschärft, auch durch die zunehmende Verbreitung von ChatGPT. Kritiker fürchten eine von KI beförderte Abkoppelung von der Realität und die zunehmende Verbreitung von Falschnachrichten. Künstliche Intelligenz kann gefährlich sein, aber vor allem sollte sie aktiv und intelligent genutzt werden.
Der NDR Info Wochenkommentar "Die Meinung" von Ulrich Schönborn (Nordwest Mediengruppe)
Der Papst im coolen Gangster-Style, Merkel und Obama händchenhaltend am Ostsee-Strand, Trump bei seiner Verhaftung vor dem Capitol: Bilder wie diese sorgen im Internet für Aufsehen. Dass sie von Künstlicher Intelligenz erschaffen wurden und es sich um Fake-Bilder handelt, merkt man nur im Kontext. Ansonsten sind sie verblüffend realistisch. Künstliche Intelligenz kann Fakten schaffen, die konstruiert sind. Darin liegt ihr Reiz und gleichzeitig ihre Gefahr. Noch amüsiert sich das Publikum über Spielereien mit Promi-Fotos. Doch wo sind die Grenzen? Über diese Frage diskutiert Deutschland zurzeit heftig. Und vergisst dabei oft, neben berechtigten Bedenken, auf die enormen Chancen der Künstlichen Intelligenz zu blicken. "Die USA erfinden, die EU reguliert" - dieser Spott aus Amerika droht einmal mehr.
KI bietet enorme Möglichkeiten
Natürlich ist das Missbrauchspotenzial von KI brisant. Man kann unbescholtene Menschen mit Fake-Bildern kompromitieren, demokratische Prozesse mit Fake-News untergraben, Gesellschaften überwachen und zur Beute totalitärer Systeme machen - wie es in China mit dem Social-Scoring-System bereits bittere Realität ist.
Es ist aber grundfalsch, mit der berühmten "German Angst" diese Szenarien als Totschlag-Argument gegen die Technik allgemein ins Feld zu führen. Denn Künstliche Intelligenz bietet enorme Möglichkeiten. Sie kann Menschen bei vielen Tätigkeiten von Routinen entlasten und hat für zahlreiche Branchen das Potenzial, den eklatanten Fachkräftemangel zu kompensieren. Sie ermöglicht Teilhabe bei Behinderungen und Ausgleich bei Benachteiligungen - der Spracherwerb ist da nur ein Beispiel. Sie schafft datengestützte Diagnosehilfen in der Medizin und Entlastung in der Pflege. Sie ist Grundlage für intelligente Stromnetze und hilft damit, wertvolle Energie zu sparen.
Und sie ist längst Realität. Wir nutzen Korrekturprogramme und Übersetzungshilfen. Wir sprechen in Telefon-Hotlines mit Robotern, die menschliche Stimmen perfekt simulieren. Wir lassen uns von Streamingdiensten Musik und Filme empfehlen und nutzen personalisierte Informationen von Suchmaschinen. Wir sichern unsere Smartphones mit Gesichtserkennung und lassen uns von unserem Navi um Staus herumführen. Dass die Debatte um Künstliche Intelligenz gerade jetzt so viel Fahrt aufnimmt und für mediale Aufmerksamkeit sorgt, liegt an Chatbots wie Chat-GPT - ein Sprachroboter, der automatisiert ganze Texte erstellt. Autoren fürchten um ihre Existenz und pochen zu Recht auf ihre Urheberrechte. Manche sehen schon das Ende des Journalismus.
Niemand kennt die Quellen der automatisiert erstellten Ergebnisse
Dabei machen Chatbots und Bildgeneratoren guten Journalismus noch wichtiger. Denn niemand - und das ist die Kehrseite dieser KI-Anwendungen - kennt die Quellen der automatisiert erstellten Ergebnisse. Ob die Inhalte stimmen, ist unsicher. Wie der Algorithmus programmiert und trainiert wurde, der die Ergebnisse in den Weiten des Internets zusammensucht, ist unklar. Redaktionen seriöser Medien sind mehr denn je gefragt, Fakten zu checken und in der digitalen Informationsflut Dämme gegen Fake-News zu errichten.
Breite Aufklärung über Chancen und Risiken gefragt
Wir sollten uns also nicht naiv, aber eben auch nicht ängstlich mit Künstlicher Intelligenz befassen. Wir sollten sie nutzen, wo sie unser Leben vereinfacht und wir müssen sie bannen, wo sie unsere Freiheit und unsere Selbstbestimmtheit einschränkt und gefährdet. Um das eine vom anderen zu unterscheiden, ist nicht Angst, sondern tiefes Wissen und breite Aufklärung über Chancen und Risiken gefragt. Missbrauch kann in der globalen Datenwelt auch mit Regulierungen und Gesetzen nicht zuverlässig verhindert werden. Umgekehrt kann Regulierung, wenn sie zu früh und zu rigoros ansetzt, Innovationen abwürgen und den Wettbewerb verzerren.
KI ist eine Entwicklung, die so offensichtlich und so dynamisch erfolgt, dass man sich ihr nicht entziehen kann - selbst wenn man es wollte. Sie ist mit ihren enormen Möglichkeiten und ihrer disruptiven Kraft vergleichbar mit der Entwicklung des Internets, das von vielen - übrigens auch vielen Medien - seinerzeit bestenfalls verkannt und schlimmstenfalls ignoriert wurde.
"Use AI or die" ("Nutze Künstliche Intelligenz oder du stirbst"), sagen die Amerikaner. Ich würde ergänzen: Kontrolliere KI und lass dich nicht von ihr kontrollieren. KI ist Fluch und Segen. Was am Ende überwiegt, liegt in unserer Hand.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.