Killed in Action: Was ist schiefgelaufen in Afghanistan?
Welche Fehler wurden beim Bundeswehreinsatz in Afghanistan gemacht? Das beschäftigt derzeit nicht nur den Bundestag - auch die dritte Staffel des NDR Info Podcasts Killed in Action geht Versäumnissen nach bei der "Mission ohne Ziel" am Hindukusch, vor allem in der Anfangszeit.
Heute ist Afghanistan wieder ein "Talibanistan" - fest in der Hand jener Steinzeit-Islamisten, die das Land beherrschten, als die internationale Gemeinschaft 2001 mit ihrem Einsatz am Hindukusch begann. Wie konnte das passieren? Wie erlebten die Beteiligten diese Zeit und wie blicken sie darauf zurück?
Die Enquete-Kommission des Bundestages will am 19. Februar ihren Zwischenbericht zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan vorstellen. Und auch die Podcast-Autoren Christoph Heinzle und Kai Küstner haben für die fünf neuen Folgen ein Dutzend Zeitzeugen befragt und Tausende Seiten Akten gewälzt.
Welche Ziele verfolgte der Einsatz in Afghanistan?
Deutschland hatte bereits Erfahrungen mit Auslandseinsätzen gesammelt, etwa auf dem Balkan. Aber keine der Missionen kam dem nahe, was nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gefordert war: Die Bundeswehr zog in ein Kriegsgebiet außerhalb Europas.
Im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus ging es zunächst um Solidarität mit den USA und um Bündnistreue. Dann erst um einen Militäreinsatz, der eng mit Entwicklungshilfe verknüpft sein sollte. Doch mit welchen Zielen? Die Taliban zu vernichten, das Land zu einer Demokratie zu entwickeln oder zumindest Menschenrechte durchzusetzen?
Soldat Robert Müller: "Ich bin wütend"
"Ich bin wirklich wütend. Und viele meiner Einsatzkräfte sind zornig, dass wir von der Politik keine Antwort bekommen. Bis heute nicht", beklagt Bundeswehr-Soldat Robert Müller in der ersten Podcast-Folge. Er war einer der ersten deutschen Soldaten, die damals, Anfang 2002, nach Afghanistan entsandt wurden. Er kehrte heim mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung, seelisch schwer verwundet.
"Ich hätte mir von der Politik wenigstens die 'Cojones' (Spanisch für: Eier) gewünscht zu sagen: Tut uns leid. Entschuldigung, wir haben Scheiße gebaut", sagt er. "Das ist ja ein Vorwurf, den ich noch heute an die Politik mache, dass mir niemand erklärt hat, bevor es losgeht, was ist eigentlich der politische Wille, dort zu sein?"
Frauenrechtlerin Barakzai: Kein Ziel, kein Plan, keine Strategie
Vorbereitet auf diesen Einsatz war niemand - weder Deutschland, noch die USA noch irgendjemand der Beteiligten. "Es gab kein Ziel, welches Afghanistan sie haben wollten. Es gab keinen Plan, keine Strategie", sagt die afghanische Parlamentarierin und Frauenrechtlerin Shukria Barakzai. Auch Diplomaten bestätigen: Echte Afghanistan-Expertise gab es innerhalb der Bundesregierung damals kaum.
Zudem war die Vorbereitungsphase zwischen dem Beschluss für die Beteiligung an einer Afghanistan-Schutztruppe (ISAF) im Dezember 2001 bis zum eigentlichen Einsatz extrem kurz. Man habe "sozusagen überhastet Rucksäcke" zusammengerafft und sei ins Einsatzland gegangen, um dort Verantwortung zu tragen, kritisiert rückblickend Carl-Hubertus von Butler, Kommandeur des ersten Bundeswehr-Kontingents, das Anfang 2002 in Kabul ankam.
Fünf Tote - Sprengstoff-Unfall erschüttert ISAF-Truppe
Der Empfang in Afghanistan war dennoch herzlich: Nach dem Sturz der Taliban und den Jahrzehnten des Krieges träumten viele im Land von einer besseren, friedlicheren Zukunft. Doch bereits nach wenigen Wochen erschütterte ein tragischer Unfall die Bundeswehr. Am 6. März detonierte eine alte russische Rakete, als Soldaten versuchten, sie zu entschärfen. Mittendrin: Robert Müller. "Die fünf Kameraden um mich herum sind irgendwie vorbeigeflogen. Und ich weiß noch, dass ich in einem Feuerball war, durch die Luft geschleudert wurde. Und ab dem Moment alles in Schwarz-Weiß gesehen habe. Und so zeitverzögert", erinnert er sich. Die Bilder von damals werden ihn wohl nie mehr loslassen.
Zwei deutsche Soldaten und drei dänische Kameraden sterben bei dem Unfall. Es sind die ersten Toten, die die Bundeswehr in Afghanistan zu beklagen hat.
Fehler bei Warlords und Polizei - zu wenig Koordination
Auch wenn das Schicksal Afghanistans nicht von Anfang an besiegelt war - schon früh passierten erste Fehler: So wurden die mächtigen Warlords - Feinde der Taliban, aber trotzdem "Kriegsfürsten" - nicht entmachtet, sondern mit politischem Einfluss und Geld bedacht: "Man hat halt die Warlords dafür bezahlt, dass sie mit einem selber zusammenarbeiten und sich nicht den Taliban angeschlossen haben", sagt der Ex-Diplomat und Afghanistan-Kenner Thomas Ruttig.
Beim Aufbau der afghanischen Polizei versagten die dafür zuständigen Deutschen - die Zahl der dafür vom Innenministerium entsandten Beamten nennt ein Diplomat schlicht "lächerlich". Und die Idee eines "vernetzten" Einsatzes zwischen Sicherheit schaffendem Militär und Entwicklung bringenden Helfern, habe "nicht funktioniert". So sieht es Michael Müller, SPD-Außenpolitiker und Vorsitzender der Enquete-Kommission im Bundestag, im NDR Interview: "Weder hier noch vor Ort haben sich die Ressorts hinreichend koordiniert."
Krisen weltweit - Bundeswehr weiter gefordert
Bei der Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes geht es nicht nur darum, Versäumnisse und Fehleinschätzungen zu identifizieren. Vor allem müssen Lehren für die Zukunft gezogen werden - für Aufbau, Ausbildung und Ausrüstung der Bundeswehr und für Entscheidungsprozesse in der Politik. Angesichts der Zahl weltweiter Krisen dürften Auslandseinsätze weiter eine Aufgabe für die Bundeswehr bleiben: "Es wird von Deutschland, der größten Volkswirtschaft in der Mitte Europas, erwartet, dass wir eine Rolle spielen", sagt SPD-Außenpolitiker Michael Müller. "Umso wichtiger, dass man sich zuvor auch selbstkritisch fragt: Wie waren eigentlich die vergangenen Einsätze?"
Antworten zu geben ist man gerade auch denen schuldig, die in Afghanistan ihr Leben ließen. Oder - wie Robert Müller - dort einen Teil ihrer Seele verloren. Der traumatisierte Soldat wartet bis heute auf Antworten von Seiten der Politik.
Alle Podcast-Folgen sind auch in der ARD-Audiothek abrufbar.
Was bisher geschah: "Deutschland im Krieg" und "Der Fall von Kabul"
Mit der Rekonstruktion der Anfangsjahre ergänzt die dritte Staffel die seit 2019 veröffentlichten Teile der Serie über den Afghanistan-Einsatz. Die erste Staffel "Deutschland im Krieg" hatte sich auf die verlustreichen Jahre um 2010 konzentriert. Die zweite Staffel "Der Fall von Kabul" schilderte die letzten Monate und Wochen vor der Machtübernahme der Taliban 2021.
Markenzeichen der Serie bleibt, dass die Geschichte des Afghanistan-Engagements vor allem aus der Perspektive unmittelbar Beteiligter und Betroffener erzählt wird. Von Soldaten und ihren Angehörigen, von Afghaninnen und Afghanen, von deutschen und internationalen Politikern und Diplomaten.