KI in Niedersachsens Justiz: Der digitale Aktenfresser
Zu viele Fälle, zu wenige Richter: Deutschlands Gerichte sind oft überlastet. In Niedersachsen läuft derzeit ein Projekt zu Künstlicher Intelligenz auf dem heiklen Gebiet der Justiz. Das Ziel: weniger Routinearbeit für den Menschen.
Wenige Schritte vom Hauptbahnhof Hannover entfernt wird die Zukunft der Justiz geprobt, in einem kleinen Arbeitszimmer im Seitenflügel des Amtsgerichts. Tilman Dach erlaubt in einem anonymisierten Fall einen Schulterblick auf seinen Computerbildschirm: "Was Sie jetzt hier sehen, ist das Modul, was es uns ermöglicht, wichtige Informationen aus Schlüsselverfahren zu extrahieren. Das heißt, man lernt die Software darauf an, nach welchen Informationen ich in vergleichbaren Fallgestaltungen in der Regel Ausschau halte."
Entlastung in "Massenverfahren" angestrebt
Dach ist Richter am Amtsgericht Hannover und operativer Projektleiter für die Einführung von Künstlicher Intelligenz in der niedersächsischen Justiz. Seit rund zwei Jahren testet er mit einigen Kolleginnen und Kollegen ein Modul, das helfen soll vor allem in sogenannten Massenverfahren.
Das sind beispielsweise Entschädigungsklagen gegen Fluggesellschaften wegen Verspätungen oder - immer noch - Verfahren im Zusammenhang mit dem Dieselskandal. Dach spricht von einer starken Belastung in diesem Bereich. "Wir bekommen viele Verfahren, die inhaltlich ähnlich ausgerichtet sind, die die gleichen Sachverhalte, aber auch die gleichen rechtlichen Fragestellungen betreffen", erklärt der Richter.
Allein das Amtsgericht Hannover hat im vergangenen Jahr über mehr als 3.500 Fluggastrechte-Fälle entscheiden müssen. Damit Dach in der Flut derartiger Massenverfahren künftig nicht untergeht, hilft ihm probeweise "Maki". Der Name der Sushi-Rolle steht in diesem Fall für "Massenverfahrensassistenz mithilfe Künstlicher Intelligenz".
"Maki" filtert Schlüsselfakten aus den Akten
Das KI-Programm unterstützt Dach bei Klagen von Flugpassagieren die wichtigsten Fakten aus den Akten herauszufiltern: Wer ist geflogen? Wann hätte der Flug ankommen müssen? Wann ist er angekommen? Und über welche Strecke ging es? "Das sind Informationen, die ich derzeit noch händisch aus den Akten entnehme, und dann für meine weitere Entscheidungsfindung aufbereiten muss", sagt Dach. "Maki" könne diesen Prozess automatisieren.
Rechtsanwälte nutzen schon länger Dienstleister, die in Massenverfahren Klageschriften mithilfe von Software erstellen. "Maki" soll den Richterinnen und Richtern nun helfen, mehr auf Augenhöhe zu kommen. Auf die Frage, ob die Künstliche Intelligenz dann auch das Urteil schreibe, schmunzelt Dach und verneint. Für die rechtliche Bewertung sei immer noch der Mensch zuständig.
Wie bislang vielleicht an einen Referendar, geht jetzt der Auftrag an die KI: "Fass mir aus den Akten zusammen, was die Parteien gesagt haben." Danach gibt es per Tastatur Feedback vom Richter: Diese Information war unzureichend, davon brauche ich mehr - damit die KI lernt.
Vier Sekunden warten statt zwei Stunden arbeiten
Die Zeitersparnis ist immens: Einen Aktenauszug, der früher zwei Stunden dauerte, erledigt die Künstliche Intelligenz in vier Sekunden. "Maki" kann den Richter auch auf ähnliche Fälle und entsprechende Entscheidungen hinweisen. Allerdings: "Diese Entscheidungen stammen aus einem Pool des jeweiligen Spruchkörpers", sagt Dach. "Das heißt, wir bekommen einen Vorschlag nur aus dem eigenen Fundus unterbreitet." So bleibe die individuelle Handschrift der Richterinnen und Richter erhalten.
KI an Gerichten: Eine Gefahr?
Bislang läuft das Projekt in einer gesonderten Testumgebung, in Kürze soll auch mit echten Akten gearbeitet werden. Auch in Hannover kennen sie die Umfragen, laut denen die Menschen besonders skeptisch sind, wenn es um den Einsatz von Künstlicher Intelligenz an Gerichten geht.
Diese Sorgen würden ernst genommen, betont Gesine Irskens, im Justizministerium Initiatorin des Projekts, die unter anderem auf die strenge, seit Sommer geltende KI-Verordnung der Europäischen Union verweist. Grundsätzlich definiere die Verordnung den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Bereich der Rechtsprechung als sogenanntes Hochrisiko-KI-System. "Das wird als hochriskant angesehen, weil Grundrechte betroffen sein können", sagt Irskens.
Uni Göttingen begleitet das Projekt
Für Transparenz und inhaltliches Feedback hat Irskens bereits mit Start im Mai 2022 Wissenschaftler der Universität Göttingen in das Projekt eingebunden. Denn die Regulierung durch die EU sei das eine, so Irskens. "Aber es kann ja sein, dass uns die Regulierung an der einen oder anderen Stelle gar nicht weit genug geht und wir weitere Pflichten für die Justiz beim Einsatz von KI sehen." Etwa dann, wenn Teile eines Urteils mit KI-Hilfe entstanden sind und man die entsprechenden Stellen kennzeichnen müsse. Anfang kommenden Jahres sollen die begleitenden Wissenschaftler eine erste Bilanz ziehen.
Den Projektverantwortlichen im Ministerium war wichtig, kein KI-Programm von der Stange zu nehmen. Das "Maki"-Tool stammt aus einer deutschen Software-Schmiede, von der Firma SINC in Wiesbaden. Sie hat bereits das System der elektronischen Akten in Niedersachsens Gerichten aufgesetzt. Amtsrichter Dach zieht zum KI-Projekt ein positives Zwischenfazit: Die Künstliche Intelligenz, sagt er, könne die Arbeit der Justiz beschleunigen - ein Robo-Richter aber drohe nicht.
Außer am Amtsgericht Hannover wird die KI in Niedersachsens Justiz auch an den Landgerichten Hildesheim und Osnabrück sowie dem Oberlandesgericht Braunschweig erprobt.