Irene Butter zu Nahost-Konflikt: "Wir weigern uns, Feinde zu sein"
Die Holocaust-Überlebende Irene Butter beobachtet mit Entsetzen die Entwicklungen in Israel und hat Angst um ihre dort lebende Familie. In ihrer Heimat USA versucht sie, mit jüdisch-arabischen Treffen für Verständigung zu sorgen.
Nach dem Großangriff der militant-islamistischen Hamas am 7. Oktober auf Israel, bei dem Hunderte Zivilisten getötet und weitere verschleppt wurden, gibt es täglich Meldungen von Opfern. Das Leid auf beiden Seiten beschäftigt die 92-jährige Butter, die heute in Ann Arbor in der Nähe der amerikanisch-kanadischen Grenze wohnt. In Israel leben ihre Tochter, die Enkel und Urenkel. Mit Irene Butter, die im NDR Info Podcast "Irene, wie hast du den Holocaust überlebt?" Hamburger Schülerinnen von ihrer Kindheit in Berlin und der Zeit im Konzentrationslager Bergen-Belsen erzählt, hat Caroline Schmidt über de aktuelle Situation gesprochen.
Wann haben Sie zum ersten Mal von den Terroranschlägen gehört?
Irene Butter: Irgendwann am Samstag schalteten wir den Fernseher ein, und da sahen wir die ersten Bilder und Berichte über das Grauen, das die Hamas im Süden Israels angerichtet hat, wo Hunderte von Menschen abgeschlachtet wurden. Das hat mich fürchterlich erschreckt. Es kamen bei mir diese entsetzlichen Erinnerungen hoch. Man hört den Alarm, und die Menschen müssen sich in Sicherheit bringen. Das war für mich während des Holocausts real, und diese Erinnerungen werden wieder wach. Vor allem aber habe ich Angst um meine Familie, die in Israel lebt. Meine Tochter und eine Enkelin mit zwei kleinen Kindern und einem zwei Monate alten Baby leben etwa eine Stunde von Tel Aviv entfernt. Ich stehe ständig mit ihnen in Kontakt und wusste und weiß, dass sie in Sicherheit sind. Aber natürlich werden die Raketen auf ganz Israel abgefeuert. Man weiß nie, wo sie landen. Ich habe Angst um sie.
Viele Israelis denken darüber nach auszuwandern. Gibt es diese Gedanken auch in Ihrer Familie?
Butter: Meine Tochter ist amerikanische Staatsbürgerin. Sie könnte also kommen, aber sie will ihren Job in Israel nicht aufgeben. Und für meine Enkelin ist es so schwer vorstellbar, dass sie mit diesen kleinen Kindern und einem Baby weggehen soll. Ich habe mit ihr darüber geredet, aber sie ist noch nicht bereit, das zu tun.
Also versuchen Sie, sie zu überreden?
Butter: Ich versuche ihr zu sagen, dass sie bereit sein soll. Dass sie den ganzen Papierkram und alles, was Sie sonst noch braucht, vorliegen hat, falls sie sehr schnell abreisen müssen.
Diese Situation nennt man "auf gepackten Koffern sitzen", was für Jüdinnen und Juden in Europa ein recht gängiger Ausdruck ist. Doch für Israel galt das doch eigentlich nie?
Butter: Israel sollte ein sicherer Hafen für Juden aus der ganzen Welt sein, und jetzt sind sie bedroht. Und es könnte sein, dass es irgendwann eine sehr gute Idee werden wird, das Land zu verlassen. Und genau wie während des Holocausts leugnen die Menschen das. Damals dachten sie, sie brauchen das Land nicht zu verlassen, weil sie dachten, ihnen würde schon nichts passieren oder der Krieg wäre bald vorbei. In gewisser Weise traf das auch auf meine eigene Familie zu. Und ich denke, dass in Israel die gleiche Denkweise vorherrscht. Alle früheren Kriege mit dem Gazastreifen waren relativ kurz. Die Hamas war militärisch bislang nicht in der Lage, so viele Raketen auf Israel abzufeuern. Sie ist auch nie so ins Land eingefallen wie dieses Mal. Und so können sich die Menschen bis heute nicht vorstellen, dass sie vielleicht bald auswandern müssen.
Sie meinen also, Ihre schlimmste Befürchtung ist, dass die Dinge sich dieses Mal ganz anders entwickeln könnten?
Butter: Ja. Es könnte ein langer Krieg werden. Er könnte nicht so schnell vorbei sein. Wenn er sich zu einem regionalen Krieg entwickelt, wäre das eine große Tragödie, und dann sind die Dinge unvorhersehbar.
In den letzten Tagen gab es viele Geschichten über Menschen, die immer für die Verständigung zwischen Palästinensern und Israelis gekämpft haben. Und auch Sie haben für diese Verständigung und den Frieden gekämpft. Und viele Menschen haben gesagt, dass sie absolut frustriert und enttäuscht sind, auf eine Art und Weise, die wirklich schwer zu beschreiben ist. Wie ist das für Sie?
Butter: Es ist sehr schwierig. Ich treffe mich seit langer Zeit mit jüdischen und arabischen Frauen regelmäßig in einer Gruppe. Dieses Mal hat es viele Tage gedauert, bis alle bereit waren, zu reden. Die meisten waren unter Schock. Und als wir uns dann trafen, war es für alle einfach nur schrecklich. Die arabischen Frauen dulden sicherlich nicht die Brutalität der Hamas. Aber auf der anderen Seite trauerten sie um all die palästinensischen Menschen, die in diesem Krieg ihr Leben verloren haben. Wir waren uns alle einig, dass es ein sinnloser Krieg ist. Er wird keine Probleme lösen. Die Israelis werden für den Tod vieler Palästinenser verantwortlich sein. Die Hamas wird für den Tod vieler Juden verantwortlich sein, beispiellos vieler Juden.
Es klingt ein bisschen so, als ob Sie gemeinsam trauern würden.
Butter: Meine Gruppe gibt es seit 21 Jahren. Wir haben in der Vergangenheit immer wieder solche Situationen erlebt. Es tröstet uns immer, wenn wir zusammen sind. Um uns herum gibt es allerdings manche Juden, die solche jüdisch-arabischen Treffen nicht akzeptieren. Und auch die palästinensische Gemeinschaft unterstützt uns nicht unbedingt. Daher ist es wirklich wichtig, dass wir einander haben. Niemand ist in dieser Situation unschuldig, und jeder hat gelitten. Und doch sind wir immer noch weit entfernt von einer friedlichen Koexistenz.
Und das ist die gemeinsame Basis, die Sie in Ihrer Gruppe haben?
Butter: Wir haben Mitgefühl mit dem Leid der anderen, mit ihren Erfahrungen von Verlust und Vertreibung und all dem. Wir haben Mitgefühl füreinander, und das ist in Krisenzeiten wie diesen so wichtig.
Sie sagen, dass die Welt mehr Mitgefühl braucht, gerade jetzt.
Butter: Ja. Unser Motto lautet: Wir weigern uns, Feinde zu sein. Das müssen wir irgendwie hinbekommen. Wir sind alle Menschen, und im Angesicht der Unmenschlichkeit müssen wir Menschen bleiben. Das ist wirklich der einzige Weg jetzt.
Das Interview führte Caroline Schmidt.