VIDEO: Wehrpflicht setzt Ukrainer im Norden unter Druck (3 Min)

Aus der Ukraine geflüchtet: "Ich muss mein Leben retten"

Stand: 17.05.2024 14:30 Uhr

Der Ukraine mangelt es im Krieg gegen Russland nicht nur an Waffen, sondern zunehmend auch an Menschen, die bereit sind zu kämpfen. Nun soll ein neues Mobilisierungsgesetz in Kraft treten. Es löst auch bei den nach Norddeutschland geflüchteten ukrainischen Männern große Verunsicherung aus.

von Saïda Belaatel und Uli Petersen

Eugen V. (*Name geändert) hat Angst - Angst, seinen Reisepass zu verlieren. Gültig ist der zwar noch drei Jahre, aber der im Hamburger Umland lebende Ukrainer will unter allen Umständen verhindern, dass er ihn verliert. Deshalb liegt das Dokument - zusammen mit anderen wichtigen persönlichen Dokumenten - sicher verschlossen in einem Safe in der Hamburger Innenstadt. Nur eine Kopie und ein Foto auf dem Smartphone hat er immer bei sich.

Hintergrund für diese Vorsichtsmaßnahme von ihm ist eine Änderung von ukrainischen Gesetzen "zu bestimmten Fragen des Militärdienstes, der Mobilmachung und der militärischen Registrierung", die laut Konsulat am Sonnabend in Kraft treten soll. Sie wird auch als ein Versuch gewertet, ukrainische Männer im Ausland dazu zu bewegen, zurück in ihre Heimat zu kommen. Denn nur dort können Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren offenbar in Zukunft einen neuen Reisepass beantragen oder ihren ablaufenden verlängern. Sind sie aber erst einmal zurück in ihrer Heimat, dürfen sie - falls wehrdiensttauglich - voraussichtlich nicht mehr legal ausreisen. Dann droht ihnen ein Einsatz an der Front.

Der Ukrainer Eugen blickt auf sein Smartphone. © NDR Foto: Uli Petersen
AUDIO: Wehrpflichtige Ukrainer im Norden bald ohne gültige Pässe? (4 Min)

"Patriotische Gefühle" für die Ukraine nicht von Dauer

Eugen erzählt beim Besuch von NDR Info in dieser Woche, dass er bereits freiwillig an der Front war - für etwa zehn Tage im Frühjahr 2022, nur wenige Wochen nach Beginn der russischen Invasion in seinem Heimatland. Damals habe er noch "patriotische Gefühle" gehabt, doch im Schützengraben im Süden des Landes wichen diese schnell der Erkenntnis, dass sein Leben weniger wert ist als etwa das schwere Kriegsgerät. "Natürlich hatte ich Angst. Ich dachte: Was mache ich hier? Danach habe ich verstanden: Ich will mein Leben nicht mehr aufs Spiel setzen und nicht für die Ukraine sterben. Ich muss mein Leben retten."

Ein schlechtes Gewissen habe er bei der Entscheidung, das Militär wieder zu verlassen, nicht gehabt. Und dass ihn einige seiner Bekannten, die in der Ukraine geblieben sind, jetzt einen Verräter nennen, nimmt er in Kauf: "Was wirklich wichtig für mich ist, ist mein Leben."

VIDEO: Eugen: "Natürlich hatte ich Angst an der Front" (1 Min)

Viele meinen: Ukraine wird den Krieg nicht gewinnen

In der Ukraine herrscht Kriegsrecht - und ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt es dort nicht. Für Eugen ist das auch nach einem im Schützengraben erlebten Angriff völlig unverständlich: "Ich finde es ungerecht, dass jeder Mann zurzeit wehrpflichtig ist. Wenn es lebensgefährlich ist, wenn junge Leute ihr Leben riskieren sollen, dann finde ich das ungerecht und undemokratisch."

In seinem ersten Jahr in Deutschland habe er noch damit zu kämpfen gehabt, dass er seiner Heimat den Rücken gekehrt hat - vor allem, weil auch in seiner Heimatstadt viele Menschen ums Leben gekommen sind. Mittlerweile aber sieht er es so wie seine Freunde, die ebenfalls ins Ausland gegangen sind: Es war die richtige Entscheidung. Aus ihrer Sicht hat die Ukraine keine Chancen, den Krieg gegen Russland zu gewinnen. "Den Krieg zu beenden, ist die beste Option", sagt Eugen.

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Befürchtung: Ohne Pässe könnten große Probleme drohen

Der Ukrainer Eugen sitzt am Schreibtisch und schaut auf seinen Laptop. © NDR Foto: Uli Petersen
Eugen versucht, sich als Finanzfachmann ein Business aufzubauen. Außerdem hilft er anderen Geflüchteten bei Papierkram und Behördengängen.

Seiner Familie und ihm gelang die Flucht nach Deutschland im Jahr 2022 zu unterschiedlichen Zeitpunkten, sodass sie derzeit an verschiedenen Orten in Deutschland leben. Für den 34-Jährigen steht fest, dass seine Zukunft hier und nicht in seinem Heimatland liegt. Der Marketing-Experte ist dabei, sich eine neue Existenz im Bereich Finanzen aufzubauen.

Dass die Ukraine nun offenbar versucht, Wehrpflichtige im Ausland zu rekrutieren, bereitet ihm große Sorgen. Was passiert, wenn sein Pass nicht verlängert wird oder er ihn verliert? Er sagt, er habe Angst, dann wie ein illegaler Migrant zu gelten. "Ich weiß nicht, ob ich dann hier noch eine Krankenversicherung erhalte, ob ich ein Bankkonto eröffnen kann, ob ich reisen kann. Für mich ist es aber wichtig, mein Leben zu planen. Was werde ich in 10, 20 oder 30 Jahren machen?" Zumindest derzeit sei es überhaupt keine Option für ihn, in die Ukraine zurückzufahren. 

Eine ukrainische Flagge ist auf den T-Shirt-Ärmel eines Soldaten aufgenäht. © IMAGO / ZUMA Wire
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Knapp 50.000 wehrpflichtige Ukrainer in Norddeutschland

Insgesamt betrifft die Mobilisierungskampagne der Ukraine alleine in Norddeutschland knapp 50.000 Männer zwischen 18 und 60 Jahren - sie alle könnten nach der neuen Gesetzeslage theoretisch in Schwierigkeiten geraten, wenn ihr Pass abläuft oder sie einen neuen beantragen müssen. Zwar gilt das Aufenthaltsrecht für alle der mehr als eine Million nach Deutschland geflüchteten Ukrainer - egal ob Männer, Frauen oder Kinder - aus humanitären Gründen noch bis zum März kommenden Jahres. Aber was danach passiert, ist noch unklar.

Möglicherweise richtet die ukrainische Regierung auch einen Appell an Deutschland, auf Männer im wehrfähigen Alter einzuwirken, wieder in ihre Heimat zurückzugehen. Wie sich Deutschland in dieser Frage verhalten würde, ist nicht bekannt. Ungewiss ist auch, ob Deutschland in Zukunft bereit ist, Ukrainern ohne gültige Papiere Ersatz-Passdokumente auszustellen. Eugen würde sich das wünschen, er wäre dann eine Sorge los.

Minister Pegel: Ungültige Pässe ändern nichts am Schutzanspruch

Laut Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Christian Pegel (SPD) ist eine Ausstellung von Pass-Ersatzdokumenten durch die deutschen Behörden aber nicht erforderlich. Hierzulande könnten sich die Menschen mit den Aufenthaltsdokumenten frei bewegen, abgelaufene Pässe würden daran nichts ändern. Für alles andere sei Deutschland nicht verantwortlich, sagte der SPD-Politiker NDR Info.

Die militärische Mobilisierungskampagne der Ukraine werde man nicht aktiv unterstützen. Das Aufenthaltsrecht der Männer zwischen 18 und 60 Jahren hierzulande sei nicht in Gefahr. Um den Schutzanspruch für die Geflüchteten aufzuheben, müsste aus seiner Sicht europäisches Recht geändert werden. Daran habe aber niemand ein Interesse.

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Innenminister Christian Pegel (SPD) © Markus Scholz/dpa Foto: Markus Scholz/dpa

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Auch wenn die Ukraine ablaufende Pässe in Zukunft im Ausland nicht verlängern sollte, könnten sich Betroffene in Deutschland weiter frei bewegen, so der Innenminister von MV auf NDR Info. mehr

Politologin Rüthers: Mobilsierungskampagne nicht überraschend

Die Politologin Monica Rüthers von der Uni Hamburg kann genauso wie Pegel die ukrainische Seite und deren militärische Mobilisierungskampagne verstehen: "Der Krieg dauert, die Menschen sind erschöpft, die Gesellschaft auch. Es wird schwierig, Leute zu motivieren. Und es ist eben notwendig geworden, neue Maßnahmen zu entwickeln, um den Pool an verfügbaren Soldaten zu vergrößern", sagte die Osteuropa-Expertin NDR Info. Mehr Soldaten zur Verfügung zu haben, sei alleine aber nicht genug, so Rüthers: "Das würde nur helfen, wenn man der Ukraine auch genug Waffen liefert. Es wäre die Kombination, die helfen würde."

Ukrainische Männer zurückzuholen oder sie zum Wehrdienst zu verpflichten, sei eine unpopuläre Maßnahme, so Rüthers. Es gehe aber aus der Perspektive der Ukraine um Fairness in der eigenen Bevölkerung. Viele Soldaten seien bereits seit Kriegsbeginn im Dienst und wünschen sich eine Ablösung und lange Pause. "Auch deshalb braucht die Ukraine Maßnahmen, um besser auf ihre Wehrpflichtigen zugreifen zu können", erklärt die Politologin den Ansatz, der hinter der Mobilisierungskampagne steckt.

Meinungsbild in der Ukraine ist gespalten

Der Deutsch-Ukrainer Maksym G. (*Name geändert) engagiert sich in Hamburg für ukrainische Geflüchtete, er hat aber auch viel Kontakt zu Menschen in seinem Heimatland. So bekommt er regelmäßig beide Seiten zu hören. Die meisten Ukrainer, die hierher geflüchtet sind, lehnen die Mobilisierungskampagne demnach ab. In der Ukraine selbst sei das Meinungsbild gespalten. Dort heißt es zum Beispiel, dass das Land nur richtig verteidigt werden kann, wenn sich mehr Menschen zum Militärdienst melden würden. Und das stützt wiederum die These der Politologin Rüthers, dass sich Teile der Bevölkerung fast zweieinhalb Jahre nach Kriegsbeginn ungerecht behandelt fühlen.

Eugen hat kein Vertrauen mehr in den ukrainischen Staat

Der Ukrainer Eugen mit Frau und Sohn bei einem Ausflug in den Bergen. © privat
Bilder von früher erinnern Eugen an das Leben seiner Familie in der Ukraine vor dem Krieg.

Das ukrainische Konsulat hatte in einem Schreiben an NDR Info betont, dass es sich bei der bereits seit Ende April praktizierten Nicht-Ausstellung von Reisepässen für ukrainische Männer um eine befristete Maßnahme handele. Ab Sonnabend sollen die Einzelheiten des neuen Gesetzes bekannt werden. Ob tatsächlich keine Pässe mehr im Ausland verlängert werden, zeige sich dann. 

Doch Eugen beruhigen solche Aussagen nicht. Er hat seit Kriegsbeginn das Vertrauen in den ukrainischen Staat verloren, kritisiert die dort herrschende Korruption. Und das macht es ihm anscheinend leicht, Deutschland mit seiner funktionierenden Demokratie als neue Heimat anzunehmen. "In einem Schützengraben zu kämpfen, das ist nicht das, wofür ich studiert habe. Für mein Leben habe ich etwas anderes vorbereitet."

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