Cannabis-Gesetz: Justiz im Norden muss 21.000 Urteile prüfen
Am 1. April soll Cannabis begrenzt für Erwachsene legalisiert werden. Bereits verhängte Haft- oder Geldstrafen wegen Delikten, die nach dem Gesetz in Zukunft nicht mehr strafbar sind, sollen beim Inkrafttreten erlassen werden. Das führt bei Staatsanwaltschaften und Gerichten zu Mehrarbeit.
Das von der Ampelkoalition geplante Gesetz zur Legalisierung von Cannabis enthält auch eine Amnestieregelung: In Norddeutschland müssten nach Schätzungen der Justizbehörden etwa 21.000 Urteile geprüft werden. Deswegen stößt das Gesetz in einigen Bundesländern auf Kritik. Heute entscheidet der Bundesrat, ob das Gesetz in den Vermittlungsausschuss kommt.
Michael Mack ist Richter am Landgericht Rostock und Vorsitzender des Richterbundes Mecklenburg-Vorpommern. Dieser vertritt die Interessen der Richterinnen, Richter, Staatsanwälte und Staatsanwältinnen gegenüber Parlamenten und der Öffentlichkeit. Mack erläutert, was genau der strittige Punkt ist, der das Gesetz verzögern oder sogar zum Scheitern bringen könnte.
Die Amnestieregelung soll mit Inkrafttreten des Gesetzes auch rückwirkend gelten. Welche Fälle umfasst die geplante Amnestieregelung genau?
Michael Mack: Amnestie bedeutet grundsätzlich den Erlass einer bereits rechtskräftig festgestellten Strafe, die wir normalerweise zu vollstrecken haben. Es gilt also nur für bereits rechtskräftig verurteilte Taten. Das bedeutet dann, dass die ausgesprochene Haftzeit nicht verbüßt werden muss. Oder dass die Geldstrafe, die das Urteil vorsieht, nicht bezahlt werden muss.
Die Justizminister und -ministerinnen der Länder beklagen einen nicht zeitnah zu bewältigenden Prüfaufwand durch eben jene Amnestieregelung. Warum ist das so problematisch?
Mack: Selbstverständlich hat die Prüfung der Akten längst begonnen. Ansonsten könnte auch keiner Angaben zu den Fallzahlen machen, die dann bearbeitet werden müssen. Zunächst müssen wir dann feststellen, wer wegen eines solchen Delikts überhaupt zu einer Strafe verurteilt worden ist. Das kann man über das Bundeszentralregister ermitteln. Dort sind aber alle Drogendelikte erfasst, also solche, die nach der neuen Regelung nicht mehr strafbar sind und solche, die weiter strafbar sind. Und deshalb müssen aus dem großen Aktenberg eben die Cannabisdelikte händisch für eine Einzelfallprüfung herausgefiltert werden, um danach festzustellen, ob die Taten, die da verurteilt worden sind, nach der neuen Regelung nicht mehr von einer Strafe bedroht wären.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Mack: Also, zum Beispiel müssen wir feststellen, wie viel Gramm Cannabis jemand bei sich geführt hat. Sind es 20 Gramm gewesen? Dann wäre es nach der neuen Regelung straffrei und dementsprechend die Strafe aufzuheben. Eine ganz besondere Schwierigkeit ergibt sich aber in den Fällen von sogenannten Gesamtstrafen. Eine Gesamtstrafe bedeutet, dass ein Täter mehrere Taten begangen hat; er ist beispielsweise mehrfach irgendwo eingebrochen. Sogenannte Beschaffungskriminalität kommt bei Drogendelikten relativ häufig vor.
Sagen wir, der Täter hat drei Einbrüche begangen und ist darüber hinaus bei einem Einbruch mit Cannabis erwischt worden. Das führt dazu, dass für jede einzelne Tat eine einzelne Strafe bestimmt werden muss. Pro Einbruch, sagen wir mal, sind es sechs Monate. Und dann noch eine Strafe für den Besitz von Cannabis. Aus diesen einzelnen Strafen ist eine sogenannte Gesamtstrafe zu bilden. Wie hoch die genau ist, hängt wieder von den Umständen des Einzelfalles ab: Sind es gleichartige Taten? Liegen sie zeitlich eng zusammen? Wie ist die Persönlichkeit des Täters? Wenn ich jetzt eine einzelne Tat, also das Cannabis-Delikt, rausnehme, muss dieser gesamte Abwägungsvorgang noch mal wiederholt werden. Das heißt, die Staatsanwaltschaft muss einen Antrag an das zuständige Gericht stellen. Und das bestimmt eine neue Gesamtstrafe.
Befürworter der Cannabis-Legalisierung - wie beispielsweise die Betreiber von Cannabis-Social-Clubs - argumentieren, dass der Gesetzgebungsprozess schon seit zwei Jahren im Gange ist und die Strafjustiz sich bereits auf die Prüfung der Akten hätte vorbereiten können.
Mack: Man hat natürlich längst damit angefangen. Es ist ja nicht so, dass wir abwarten, ob irgendwann vielleicht eine Regelung kommt. Auf der anderen Seite ist es so, dass die Gerichte verpflichtet sind, nach geltendem Recht zu urteilen und erst dann überhaupt eine Entscheidung treffen können, wenn dieses geltende Recht in Kraft gesetzt worden ist. Zudem sind die Staatsanwaltschaften eigentlich bundesweit deutlich überlastet. Und diese Aufgaben kommen eben noch obendrauf.
Und was ist mit noch laufenden Verfahren? Also den Tatverdächtigen, gegen die wegen bisher strafbarer Vergehen ermittelt wird?
Mack: Für noch laufende Verfahren ist zunächst einmal das Recht anzuwenden, das zum Zeitpunkt der Tat galt. Darüber hinaus gibt es aber Einstellungsmöglichkeiten, von denen die Gerichte und Staatsanwaltschaften Gebrauch machen können. Unter Abwägung des konkreten Einzelfalls muss man dann überlegen, ob man von einer Strafe absieht aufgrund der Tatsache, dass es zukünftig nicht mehr strafbar ist.
Was passiert eigentlich in den Fällen, in denen Urteile bereits vollstreckt sind? Wird eine Geldstrafe dann zurückgezahlt?
Mack: Nein, zurückgezahlt wird das Geld nicht. Die Amnestieregelung gilt grundsätzlich nur für solche Strafen, die noch nicht vollstreckt worden sind. Das bedeutet also letztendlich eine Haftstrafe, die noch nicht verbüßt worden ist oder eine Geldstrafe, die noch nicht bezahlt worden ist.
Und wenn jemand aktuell in Haft sitzt wegen eines Cannabis-Vergehens, das dann nicht mehr strafbar ist: Würde die Person dann mit dem Ende der erneuten Prüfung des Falls entlassen werden?
Mack: Wenn das wirklich Haftstrafen sind nur deswegen, dann müsste die Haft ab dem Moment, in dem das neue Gesetz gilt, natürlich aufgehoben werden. Aber in den allermeisten Fällen ist ein Cannabis-Vergehen verbunden mit anderen Taten. Und das heißt, wir müssen erst mal die Gesamtstrafe auflösen, eine neue Gesamtstrafe bilden, um überhaupt feststellen zu können: Ist jetzt hier ausreichend vollstreckt? Oder muss noch weiter vollstreckt werden?
Gibt es aus der Sicht des Richterbundes, für den Sie sprechen, eine praktikable Lösung für das Problem?
Mack: Ich würde auf die Empfehlung des Rechtsausschusses verweisen, der empfohlen hat, die Amnestieregelung nicht durchzuführen oder aber, wenn man sie denn unbedingt durchführen muss, mit einem Vorlauf von sechs Monaten. So kann man sich vorbereiten und bis dahin die entsprechenden Entscheidungen treffen.
Das Interview führte Anna-Lou Beckmann.