Bahnstreik: EVG will nicht als "begossener Pudel" dastehen
Millionen Reisende müssen umplanen. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG will 50 Stunden streiken - von 22 Uhr am Sonntag an soll der Zugverkehr bis Dienstagabend still stehen. Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder erklärt im Interview, wie ein Kompromiss aussehen könnte.
Seit Februar laufen die Tarifverhandlungen, und von der Gewerkschaft heißt es, die Geduld der Beschäftigten sei zu Ende. Die Bahn dagegen nennt diesen längsten Warnstreik der EVG irrsinnig. Wolfgang Schroeder, Politikwissenschaftler an der Uni Kassel und Gewerkschaftsexperte, hat einige Jahre selbst für die IG Metall gearbeitet. Im Interview mit NDR Info erklärt er, wie sich der Konkurrenzkampf zwischen EVG und GDL auf den Streik auswirkt.
Herr Schroeder, ist ein Warnstreik von 50 Stunden angemessen?
Wolfgang Schroeder: Nein, das ist zunächst mal etwas Besonderes, was wir in dieser Form noch nicht hatten, weil Bahnstreiks normalerweise relativ kurz sind, um ein Zeichen zu setzen und Druck auszuüben. Das hat schon eine übergreifende Dimension.
Streit gibt es ja vor allem um den Mindestlohn. Die Deutsche Bahn sagt, sie sei der Forderung der EVG entgegengekommen. Die Gewerkschaft sieht ihre Forderungen noch nicht erfüllt und spricht von einem Scheinangebot. Wenn man sieht, worum es gerade geht, ist so ein Streik gerechtfertigt?
Schroeder: Die Frage ist nicht so einfach zu beantworten, weil es hier eine Vorgeschichte gibt. Die Vorgeschichte ist, dass die EVG mit der Lokführergewerkschaft GDL in Konkurrenz steht. Die EVG ist die größere Gewerkschaft mit etwa 180.000 Mitgliedern. Sie war in der Vergangenheit sehr kooperativ und hat nahezu alle großen Entwicklungen der Bahn mitgetragen - weil sie zum einen das Vertrauen in die Bahn hatte. Zum anderen wollte sie, dass die Bahn sich weiter modernisiert, wettbewerbsfähig wird und eine gute Infrastruktur bildet. Die Gewerkschafter sind jetzt enttäuscht, weil sie sehen, wie der Zustand der Bahn ist und dass die Politik und das Management nicht so geliefert haben, wie sie sich das vorgestellt haben. Hinzu kommt, dass die GDL immer auf den Putz gehauen hat und die damit der EVG so ein bisschen die Bühne geklaut hat. Man hatte den Eindruck, dass die EVG eine handzahme Gewerkschaft ist, ein Schoßhündchen. In der jetzigen Situation wollen sie keinen Fehler machen und sehen auch, dass ihre Forderungen noch nicht erfüllt sind.
Geht es jetzt auch ein bisschen um das Ego der EVG?
Schroeder: Ich würde nicht Ego sagen, sondern diese Gewerkschaftskonkurrenz war sehr schmerzvoll für die EVG. Sie müssen sehen, dass sie nicht wie ein begossener Pudel dastehen. Die Gefahr ist, dass das auf dem Rücken der Bahnfahrer ausgetragen wird.
Jetzt kann man natürlich sagen, warum sollten die Beschäftigten ihre Forderungen nicht mit Streiks untermauern. Wo hört das Recht zum legitimen Druckmittel auf und wo beginnt der Schaden für alle?
Schroeder: Wir haben in der Rechtssprechung das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Beim Streik gibt es kein ausgefeiltes Gesetz, sondern wir haben Richterrecht, das heißt: Nach jedem Konflikt kann neue Rechtssprechung ermöglicht werden, die aber dann wiederum auch nicht Gesetzescharakter hat. Beispiel Warnstreiks: Die gab es bis in die 1970er-Jahre nicht als legitimes Mittel. Während der Tarifverhandlungen konnte man nicht streiken. Das hat sich verändert seit den Siebzigern. Es gibt drei Urteile des Bundesarbeitsgerichtes, die die Legitimität der Warnstreiks bestätigen, weil man in der Abwägung sieht, dass am Ende der Konflikt abgekürzt wurde und ein besseres Ergebnis für alle Beteiligten erreicht werden kann.
Wie groß muss das Zugeständnis der Arbeitgeber sein, damit die Gewerkschaft den Streik als Erfolg verbuchen kann?
Schroeder: Der Druck ist für alle sehr groß, weil die Gewerkschaft große Erwartungen bei den Mitgliedern geweckt hat. Wenn jetzt nur ein Ergebnis herauskäme, das nicht weit von dem entfernt ist, was die Arbeitgeber auf den Tisch gelegt haben, dann hätte man schon ein Problem. Es gibt zwei Punkte, wo Verhandlungsmöglichkeiten gut denkbar sind, das ist einmal der Mindestlohn, weil da haben sie sich ziemlich verhakt. Und das zweite ist die Laufzeit, die vonseiten der Arbeitgeber angeboten wird. Sie bieten 27 Monate an, die Gewerkschaft will zwölf Monate. Da müsste eine Kompromisslösung denkbar sein, die in Richtung der Abschlüsse im öffentlichen Dienst und in anderen Bereichen geht.
Das Gespräch führte Liane Koßmann