Mehr Teilhabe am Berufsleben dank Mixed-Reality-Brille
Am Berufsbildungswerk Hamburg unterstützt eine Mixed Reality Brille angehende Friseure mit besonderem Förderungsbedarf. Die Haare werden dabei nur virtuell abgeschnitten.
Jessica steht im Friseursalon des Berufsbildungswerks Hamburg. Sie ist im dritten Ausbildungsjahr, kurz vor ihrem Berufsabschluss. Die Wahl für den Beruf ist ihr nicht schwergefallen: "Ich finde den Kundenkontakt gut und mag die Abwechslung. Es gibt auch Momente, in denen ich keine Lust mehr habe, aber ich raffe mich immer wieder auf." Corina Lewin bildet Jessica und drei weitere Schülerinnen und Schüler ihres Lehrjahres aus: "Wir müssen unsere Haarschnitte planen, so wie ein Architekt ein Haus baut. Wir Friseurinnen müssen diese Architektenzeichnung im Kopf haben. Wir zeichnen Schnittgrafiken auf ein Papier und müssen alle vier Ansichten rund um den Kopf zeichnerisch darstellen. Diesen Switch zwischen Kopf und Papier hinzubekommen, ist oft eine Herausforderung."
Verbindung von realer und virtueller Welt
Planung und Umsetzung des Haarschnitts erfordern viel Übung. Diese kommt in der Ausbildung aber oft zu kurz. Schließlich stehen Puppenköpfe, an denen Auszubildende das Haare schneiden üben können, nur begrenzt zur Verfügung und sind teuer. Dazu kommen psychologische Herausforderungen, weiß Corina Lewin: "Bei den Azubis herrschen viele Ängste vor, den Haarschnitt an den Kunden umzusetzen." Aus diesem Grund testet das Berufsbildungswerk die Hololens, eine Mixed-Reality-Brille von Microsoft. Das Projekt nennt sich EdAL MR 4.0 und will die virtuelle und die reale Welt visuell miteinander verbinden. Auch komplexe Lerninhalte zu Haarschnitten, Farbenlehre oder Werkzeugkunde können darüber vermittelt werden. EdAL MR 4.0 steht für Entwicklung und Erprobung digitalisierter Arbeitshilfen und Lerneinheiten auf Mixed Reality Basis in der beruflichen Reha-Ausbildung zur Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt 4.0. Es wird gefördert aus Mitteln des Ausgleichsfonds des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Auch Menschen mit ADHS oder Autismus können teilnehmen
Das Projekt zeigt: Die Digitalisierung im Berufsalltag ist nicht aufzuhalten. Durch den immer größer werdenden Einzug von Technologien befindet sich die Arbeitswelt im Wandel. In diesem Zusammenhang testen die Auszubildenden des Friseurhandwerks die besondere Brille, die mit 4.000 Euro pro Stück recht kostspielig ist. Ohne den Ausgleichsfonds wäre das Projekt so nicht umsetzbar. Davon profitieren auch Menschen mit sogenanntem Reha-Status, die beim Berufsbildungswerk Hamburg ebenfalls ausgebildet werden. Ein Reha-Status besteht, wenn beispielsweise eine drohende Behinderung vorliegt, die eine Teilhabe am Arbeitsleben einschränkt. Die Behinderung kann sowohl physischer als auch psychischer Natur sein. Anders als ein Grad der Behinderung, kann ein Reha-Status aber wieder aufgehoben werden. Der Reha-Status gewährt so auch Auszubildenden eine besondere Förderung, die beispielsweise eine Autismus-Störung haben.
Selbstbewusster Einstieg in den Beruf
Auszubildenden wie Jessica gibt die Technologie mehr Sicherheit in ihrem Handwerk. Dass Schnittmuster für Frisuren auf echte Puppenköpfe übertragen werden können, erleichtert ihr das Haare schneiden. Wenn sie die Brille aufsetzt und auf den Puppenkopf schaut, ertönt ein akustisches Signal, sobald der Kopf zu sehen ist und die virtuellen Tools zur Verfügung stehen: "Ich sehe hier einen virtuellen Kopf, der mir die kompakte Schnittgrafik zeigt. Da kann ich dann alles auf eine Länge schneiden oder einen Stufenhaarschnitt vornehmen. Ich kann auch alles auf einen echten Puppenkopf ziehen und den Schnitt kontrollieren." In vielen anderen handwerklichen Berufen ist die Digitalisierung schon längst angekommen - im Friseuerhandwerk ist es eine Neuheit. Durch die Hololens können die Auszubildenden schneller eine Sicherheit erlangen, um selbstbewusst in den Beruf einzusteigen.
Einsatz in der Medizin schon Standard
Theoretisch könnte die Brille bald regelmäßig in Friseursalons genutzt werden. Lars Eckernkemper, Vorstandsmitglied des Vereins nextReality.Hamburg e.V., sieht darin großes Potential: "In vielen Bereichen hat sich die Technologie schon durchgesetzt. Das bekommt der Endkonsument aber oft nicht mit. Ärzte zum Beispiel prüfen damit vorher, dass sie die Schnitte richtig setzen. Das bringt in vielen Bereichen Vorteile mit sich. Es nimmt einem die Arbeit nicht ab, aber es wirkt unterstützend, macht Prozesse sicherer und erleichtert die Arbeit."
Ergänzung zum klassischen Lernen mit dem Buch
Bis Januar 2025 testen die Auszubildenden des Hamburger Berufsbildungswerks noch vier Brillen. Ziel ist es, herauszufinden, wo die Brille bei der Friseurausbildung wirklich helfen kann. Im Optimalfall möchte der Bund die Nutzung der Brille ausweiten. Jessica ist jetzt schon überzeugt: "Ich find's tatsächlich cool." Samuel Breisacher, stellvertretender Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke, ergänzt: "Gerade für Menschen mit Teilhabeeinschränkungen ist die Wissensvermittlung in einer virtuellen, dreidimensionalen Umgebung eine hilfreiche Ergänzung zum theoretischen Lernen mit dem Buch." Die im Projekt EdAL gesammelten Erfahrungen mit Mixed Reality sollen dabei helfen, die Erkenntnisse auf andere Bereiche zu übertragen, um die Technik schließlich auch in anderen Berufsfeldern einzusetzen.