Kommentar: Wir werden auch diesen Warnstreik aushalten
Ab Sonntag um 22 Uhr will die Bahngewerkschaft EVG den Zugverkehr in Deutschland lahmlegen. Der Fern- und Regionalverkehr wird weitgehend zum Erliegen kommen. Dies betrifft nicht nur Pendlerinnen und Pendler. In Hamburg beginnen am Montag die Ferien. Das muss ein Wirtschaftsstandort wie Deutschland aushalten - und wird es auch, meint Peter Kleffmann in seinem Kommentar.
"Das kann doch nicht wahr sein, nicht schon wieder!", genervtes Augenrollen - das war bei vielen Menschen aus meinem Umfeld die spontane Reaktion auf die erneute Streikankündigung der Bahngewerkschaft EVG. Millionen Menschen werden Anfang kommender Woche wieder nur schwer oder gar nicht zur Arbeit kommen, vielen Hamburgerinnen und Hamburgern wird der Start in den Urlaub erschwert. Und wir Journalisten machen das, was unser Job ist: Berichten, erklären, Alternativen aufzeigen. Auch an den Streiktagen. Dann sprechen wir natürlich auch mit Reisenden und erleben manchmal eine Überraschung: Viele sind gar nicht so genervt.
Viele Menschen haben Verständnis
Woran das liegt? Viele können die Situation der rund 230.000 Bahnbeschäftigten gut nachvollziehen. Jeder erfährt es am eigenen Leib: im Eiltempo gestiegene Preise in allen Bereichen und das Gefühl, der Ukraine-Krieg und der Klimawandel gefährden unseren Wohlstand und die Sicherheit, es werde schon immer so weitergehen. Auch wenn man manchmal glaubt: solche Streiks, so lang und mit solchen erheblichen Auswirkungen, hat es doch früher nicht gegeben, zumindest nicht so häufig - das Gefühl trügt, auch früher schon hat es das gegeben. Zudem sind es eben ungewöhnliche Zeiten. Die Forderung nach mehr Lohn ist verständlich und berechtigt.
Unsere Volkswirtschaft wird das überstehen
Wenn ein Streik nicht weh tut, macht er keinen Sinn. Ein Ausstand vielleicht nur am Sonntag - der Druck auf die Arbeitgeber wäre erheblich geringer. Tarifauseinandersetzungen gehen fast immer mit nicht immer rationalen Ritualen einher. Dazu gehört genauso fast automatisch das Jammern der Arbeitgeber. Man stehe im Wettbewerb, das Ende der Fahnenstange ist erreicht, die Gewerkschaften gefährden Arbeitsplätze und so weiter. Ein Teil davon ist sicher richtig. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass Konzerne stattliche Gewinne machen und hier trotz aller Wehklagen auch noch kein Ende in Sicht ist. Die düsteren Zukunftsprognosen wirken da eher als Teil des ritualisierten Tarifkampfes. Auch wenn die Bahn zu einem erheblichen Teil aus Steuergeldern finanziert wird, haben ihre Beschäftigten die gleichen Rechte wie allen anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Vom Streik bei der Bahn wird der Wirtschaftsstandort nicht untergehen. Streik ist nicht nur das Recht eines jeden Arbeitenden, sondern Teil unserer Kultur. Und vielleicht wird ein Unternehmen, dessen motivierte Belegschaft sich durch einen angemessenen Lohn wertgeschätzt fühlt, sogar besser und produktiver. Die Deutsche Bahn könnte es brauchen.